Begegnung

Über den nächtlichen Wolken von New York nach London sind mir diese Zeilen zugeflogen. Eine beeindruckende Reise geht zu Ende. Und ich kehre definitiv verändert zurück. Mit neuen Einsichten und Eindrücken. 

 

 

 

Da gab es diese Frau. Ich hatte sie zum ersten Mal am Samstag gesehen, zwei Tage nach meiner Ankunft. Ich wohnte in einem alten sechsstöckigen Haus aus rot-braunem Backstein in Greenwich Village; dem “Village”, wie die Einheimischen sagen. Auf jeder Etage gab es drei Wohnungen. Ich wohnte im 5. Stock, Wohnung C. Es gab keinen Aufzug, was bei den alten Häusern im Village nicht unüblich ist. Im Flur roch es muffig, abgestanden. Die Strasse war ruhig. Ein Eisladen und ein Buchladen gleich nebenan links. Rechts herum kam man am Ende des Blocks zu einem Coffee-Shop und auf die Hauptstrasse mit Taxis, Restaurants; einem kleinen Park und einer öffentlichen Bücherei. Dort auf der Hauptstrasse war was los, während man hier in meiner Straße den Eindruck hatte, es liesse sich aufatmen in dieser verrückten Stadt. 

 

Wenn ich von zu Hause aufbrach um sie zu erkunden, diese verrückte Stadt, ging ich manchmal nach rechts und manchmal nach links. Am Samstag ging ich nach rechts. Kurz vor dem Coffee-Shop fiel mir eine Afro-Amerikanerin auf. Sie stand vor einem leeren Ladengeschäft in einer Ecke. Sie hatte lange Dreadlocks, Kopfhörer in den Ohren und ordnete ihre Sachen. Ich musterte sie verstohlen. Sie trug eine knallblaue Schlaghose mit großen, weißen Sternen drauf, dazu rote abgewetzte Plateau-Stiefeletten. Darüber ein schwarz-weiß gemusterter taillierter Mantel mit verfilztem unechten braunen Fell an den Ärmeln und am Kragen. Sie hatte eine Art Einkaufswagen dabei voller Sachen, wie zum Beispiel eine bunt beklebte Gitarre, die ein wenig wie eine große Spielzeuggitarre wirkte. Dann war ich auch schon vorbei und konnte nicht mehr schauen. 

 

Normalerweise brach ich so gegen 10, 11 Uhr am Morgen auf zu einem Spaziergang durch die Stadt. Ich lief immer in eine andere Richtung und frühstückte meist unterwegs, dort wo es mir angenehm erschien. Manchmal aß ich auch gleich zu Mittag gegen 12 oder 13h. Unterwegs begegneten mir eine Unmenge von Menschen aller Art. Ich war fasziniert, dass jeder Mensch anders ist, einzigartig. Und hier in dieser Stadt gibt es keine Konformität an Kleidung oder Auftreten. Jeder läuft herum wie er will. Jeder ist anders. Ich schaute mir die Menschen meist im Vorbeigehen nur indirekt an; vermied es, ihnen in die Augen zu schauen. Ich wollte nicht angesprochen werden oder irgendeine Reaktion provozieren. Ich wollte niemandem den Eindruck geben, dass ich ihn musterte wie ein Zootier. Einfach nur hier gehen und schauen dürfen, die Vielfalt des Lebens. 

 

Es gab auch Tage an denen ich offener war. Zum Beispiel an einem Zebrastreifen, wo gerade noch andere Menschen warteten. Man konnte ziemlich schnell fühlen wie sie heute und generell drauf waren, und ob man einen Blick riskieren konnte, der vielleicht mit einem offenen Lächeln erwidert würde. Manchmal entspann sich daraus sogar ein kleines Gespräch. 

 

Nach fünf, sechs Stunden laufen in dieser Stadt hatte ich meist genug und ging wieder nach Hause in meine Strasse. Fünf Treppen hoch. Wenn ich die Wohnungstür hinter mir schloss, liess ich die Stadt draußen und war allein, mit mir, für mich. Es war eine ziemlich kleine Wohnung, aber hell und ruhig, da sie auf einen Innenhof mit Bäumen hinausging. Ich hatte zwei große vergitterte Fenster in meinem Wohn-/Schlafzimmer; das eine ging auf eine Feuerleiter hinaus und liess sich ganz öffnen. Das zweite liess sich hochschieben und ich hatte es nachts geöffnet. Ich fand es toll in einer Stadt zu leben, die niemals schläft und ruhig schlafen zu können bei geöffnetem Fenster. Durch die Bäume und an den benachbarten Hochhäusern vorbei konnte man den Himmel sehen und ich schaute morgens ob er blau oder grau ist. Gegen 9.30h zeigte sich meist die Sonne. Ansonsten hatte ich noch eine kleine Küche mit Gasherd auf dem ich Tee kochte und ein winziges Bad  mit Wanne und einen schmalen Flur der das alles verband. 

 

Am Dienstag sah ich die Frau wieder. Ich war wieder rechts herum gegangen und sie stand an der gleichen Stelle. Mit den gleichen Sachen in den gleichen Klamotten. Kopfhörer auf den Ohren. Dieses Mal fielen mir mehr Kleinigkeiten auf, da ich einen Teil von ihr ja schon kannte. Unter der Gitarre auf ihrem Einkaufswagen lag Hausrat. Völlig verschiedene Dinge die ich nicht wirklich zusammenbrachte, wie zum Beispiel eine Teigrolle aus Holz, eine Minigiesskanne, eine Keksdose, viele verschiedene Stifte, Plastiktüten mit Sachen drin, von denen ich nur Umrisse sah. Ihre taillierte Fell-Jacke war ziemlich abgenutzt. Heute trug sie über ihren Dreadlocks einen schwarz-weißen Cowboyhut. Ich riskierte einen Blick in ihr Gesicht als ich ganz nah und schon fast an ihr vorbei war. Sie beschäftigte sich gerade mit ihren Sachen; ihr Blick war gesenkt. Ihr Alter war schwer zu schätzen, vielleicht 60? Sie war geschminkt. Und ich konnte leise die Musik hören, die sie auf den Ohren hatte. Irgendetwas Altes, 1960er oder 1970er schätzte ich.  

 

Als ich vorbei war, fragte ich mich, warum sie wohl dort stand. Beim ersten Mal hatte ich gedacht sie sei eine Künstlerin, vielleicht eine Schauspielerin oder Tänzerin, die dort auf etwas wartete. Die Künstler hier im Village waren teilweise recht speziell und ich hatte schon viele Menschen in ungewöhnlichen Outfits gesehen, es hätte also durchaus sein können. Jetzt hatte ich eher den Eindruck, dass sie eine Strassenmusikerin sein könnte, oder sogar eine Obdachlose. Aber mit Schminke und in diesem Aufzug? Und warum stand sie gerade dort, in der ruhigsten Strasse der Stadt und spielte ihre Gitarre gar nicht? 

 

Mir kamen sehr viele ungewöhnliche Menschen auf meinen Spaziergängen entgegen und so dachte ich nicht mehr lange über die Frau nach. Es gab so viel zu sehen hier, so viele neue, ungewohnte Dinge und Situationen. Oft fragte ich mich bei Menschen die mir entgegenkamen warum sie hier lebten und wovon. Was ihre Vorstellungen vom Leben waren und ob sie Träume verwirklicht hatten. Wenn ich in Cafés saß, stellte ich mir vor, was die Menschen neben mir wohl arbeiteten. Beziehungsweise ob sie arbeiteten. Allerdings saß ich eigentlich hier nie sehr lange in Cafés. Ich war von der allgemeinen Geschäftigkeit angesteckt, nie lange an einem Ort zu verweilen. Kaffeetrinken und gehen. Essen und gehen. Im Park sitzen und gehen. Durch ein Geschäft schlendern und gehen. Das machten hier alle so, schien es mir, und mir fiel nach einiger Zeit auf, dass ich es auch so machte. Ich schrieb meistens zu Hause in meiner Wohnung, am Abend und am Morgen. Dort war es still und ruhig; die Zeit schien langsamer zu fließen und mir Raum zu geben aufzuschreiben was ich gesehen und gefühlt hatte. 

 

Am Freitag ging ich wieder rechts herum. Ich erwartete es schon fast, und tatsächlich, die Frau stand wieder am gleichen Ort. Diesmal schaute sie mich an, und ich schaute erschrocken weg. Was wenn sie mich ansprach? Wenn sie Geld von mir wollte? Dabei hätte ich gerne gewusst, was sie dort tat. Aber sie war mir auch nicht ganz geheuer. Sie schien nie auf ihrer Gitarre zu spielen. Immer nur Musik über Kopfhörer zu hören. Ich schaute auf das leere Ladenlokal vor dem sie stand. Hatte es etwas mit ihr zu tun? Dann war ich auch schon vorbei. Es war verrückt. Ich wollte wissen was diese Frau tat, was in ihr vorging und meine Gedanken gingen in alle Richtungen. 

 

Am Samstag wollte ich eigentlich links herum gehen um bei einem anderen Coffee-Shop zu frühstücken, den ich schon kannte. Es war mein letzter Tag in dieser Stadt; heute Abend würde ich nach Hause fliegen. Also ging ich rechts herum. Ich wollte die Frau noch einmal sehen. Vielleicht hatte sich etwas an ihr verändert oder ich konnte etwas mehr über sie herausfinden. 

 

Sie war nicht da.  

Was war passiert? Wo war sie? Ich verlangsamte meinen Schritt, blieb stehen dort wo sie immer gestanden hatte. Ich schaute mich ratlos um. Menschen hasteten vorbei. Ich stand im Weg. Ich blickte durch das staubige Schaufenster in das Ladenlokal hinein. Es war anscheinend schon lange leer; nichts außer einigen alten, kaputten Möbeln. Eine halb abgebaute Bartheke. Müllsäcke. Es gab kein Schild und keinen Hinweis darauf, was es einmal gewesen war. Ich blieb unschlüssig stehen. Irgendwie wusste ich gar nicht mehr, wo ich hatte hingehen wollen. 

 

Plötzlich hörte ich eine Stimme hinter mir. 

“Hello lady, what are you doin in my place?”

 

Erschrocken fuhr ich herum. Da stand sie vor mir. Mein Herz machte einen Sprung. Sie hatte eine sehr tiefe Stimme und stand groß vor mir auf ihren Plateau-Stiefeln. Sie hatte einen starken Akzent, den ich nicht zuordnen konnte, und eine Zigarette zwischen den geschwungenen Lippen, so dass ich sie kaum verstanden hatte. Aber ich fühlte, dass ich auf ihrem Platz stand. Schnell trat ich beiseite und nuschelte “sorry”. 

 

Sie positionierte sich auf ihrem Platz. Einkaufswagen in die Ecke. Ihre Bewegungen waren etwas ungelenk und ich merkte, dass sie anscheinend Probleme mit ihrer Hüfte hatte. Und mit ihrem Knie. Die Plateau-Stiefel waren sicherlich nicht besonders hilfreich dafür. Ich musterte sie verstohlen. Heute hatte sie wieder diesen knallroten Lippenstift aufgetragen und ihre Augen waren schwarz umrandet. Aber die Kleidung kam mir so von ganz Nahem noch schäbiger vor. Sie sah müde aus. Ich schielte auf den Einkaufswagen und war mir langsam sicher, dass das ihr ganzer Hausrat war. 

 

“They will open soon again. Its my place. Here I was singin and playin. Good time. All people loved me.”

 

Die Frau deutete mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf das leere Ladenlokal. Ihre Hand zitterte. Asche fiel von der Zigarette zwischen in ihren Lippen in das braune Fell ihres Jackenkragens. 

 

“Now am paintin. I am an artist. Cant dance anymore. But will play guitar when they open again. And until then, paintin. You wanna pay my paintin?” 

 

 

Die Frau zog einige Blätter von ihrem Einkaufswagen und hielt sie mir entgegen. Schwarz-weiße Zeichnungen, kritzelig, mit Fineliner. Eine Frau auf einer Bühne, tanzend, singend, spielend, Publikum jubelt. Immer wieder das gleiche Bild aus unterschiedlichen Perspektiven. Ich blickte auf das leere Ladenlokal, dann auf die Frau. Und plötzlich verstand ich. Hier wartete sie jeden Tag. Und hoffte, dass niemand ihr erklären würde, dass der Jazzclub nicht mehr öffnen würde. Nie mehr. 

 

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Kommentare: 4
  • #1

    Sabine (Sonntag, 05 November 2017 11:17)

    Hallo Daniela,
    ein interessanter Bericht von deiner Zeit in der ruhelosen Stadt. Und die Begegnung ist berührend und traurig, weil man sich fragt, wie lange wurde der Frau keine Aufmerksamkeit mehr geschenkt? Oder hat man es aufgegeben, weil keiner ihr ihre Hoffnung nehmen wollte dass irgendwann die guten Zeiten wiederkehren.
    So eine Begegnung läßt einen nachdenklicher zurück und wie du richtig sagst, wenn man nicht ganz gefühllos und desinteressiert ist, auch verändert.

    Im Absatz vor "Sie war nicht da." hast du einen Schreibfehler: Ich wollte die Frau nochmals sehen und nicht gesehen.

    Lieben Gruß
    Sabine

  • #2

    Andrea Schwarzenbarth (Sonntag, 05 November 2017 13:23)

    Hey Dani, eine berührende Geschichte und sehr schön geschrieben.Danke dafür. Wir fahren heute von Miami , zurück nach Palmetto.Du hast mich dazu inspiriert, ein paar Dinge aus unserem Urlaub aufzuschreiben. Ganz liebe Grüße, Andrea

  • #3

    Christiane (Sonntag, 05 November 2017 14:49)

    Hi Daniela, berührend und wunderschön in allem.Ich habe NY vor 10 Jahren anders , sehr anstrengend erfahern, und erinnere mich nur dass im Central Park ich das einzige Mal so richtig entspannt war, und den Lärm im aussen lassen.Danke für deine Bildreichen Berichte. So eine Stadt ist wie ein Riesiger Kosmos , wo jeder Einzelne sein eigener Kosmos ist, Innehalten und beobachten.Hab einen guten Flug bis bald!

  • #4

    Daniela (Sonntag, 05 November 2017 15:08)

    Liebe Sabine, vielen Dank für den Hinweis. Ich habe den Fehler verbessert! Da ist mir beim nochmals Nachlesen was durchgegangen.

    Liebe Andrea, das freut mich wirklich sehr! Ja, schreib alles auf, im Urlaub und auch zu Hause. Und wenn es nur für Dich zum Nachlesen ist in einigen Wochen, Monaten, Jahren, das ist sehr spannend; das kann ich aus eigener Erfahrung sagen.

    Liebe Christiane, auch ich empfand NY stellenweise als sehr anstrengend, besonders das Financial District in Downtown Manhattan und Midtown Manhattan rund um den Times Square. Und das Attentat am 31.10. hat natürlich noch dazu beigetragen, dass die Energie teilweise sehr rau und hektisch war. Es war wichtig für mich, bei mir zu bleiben in alldem; zu fühlen was davon ist meins und im bewussten Atem zu bleiben. Dafür war es wirklich ein gutes Training....
    Gerne treffen zwischen dem 16. und 19.11., lass uns whats appen nächste Woche.
    Daniela