Lebendiger Raum

Klara hatte keine Zeit. Wie immer war sie in Eile. Einen Stapel Bücher im Arm, rannte sie mit wehendem Rock die Straße hinunter. Sie kam zu spät. Schon wieder würde sie in die Vorlesung hineinplatzen und sich hochgezogene Augenbrauen einhandeln. Trotzdem war sie guter Laune. 

 

In Gedanken ging sie noch einmal die Geschichte durch, die sie heute morgen auf ihrer alten Schreibmaschine geschrieben hatte. Plötzlich, beim Zähneputzen, war ihr diese Idee gekommen, und, ohne erst zu Frühstücken, hatte sie sich an den klapprigen Tisch gesetzt und zu tippen begonnen. Klara liebte es, wenn sie plötzlich eine Inspiration packte, ein Weg sich auftat, dem es nur zu folgen galt, in eine neue Geschichte hinein, die aufgeschrieben werden wollte. Die schwarze, mechanische Schreibmaschine war ein Geschenk ihrer Großmutter gewesen, kurz bevor sie gestorben war. Ihre Großmutter hatte auch geschrieben. Die große Literatin Ella Kaufmann. Klara würde auch Schriftstellerin werden.

 

Sie stand im Bus und krampfte ihre freie Hand um die Haltestange, um nicht umzufallen. Sie musste lächeln wenn sie an ihre Großmutter dachte. Hinter dichten Rauchschwaden hatte Ella immer hinter dem großen Schreibtisch gesessen; diese kleine Frau, die energisch in die Tasten tippte. Klara hatte ihr als Kind öfter eine Tasse Tee bringen dürfen, sonst hätte sie sie gar nicht gesehen. Ella hatte einfach immer nur geschrieben. Und danach hatte sie in ihrem alten Lehnsessel gesessen und mit einem Rotstift gelesen was sie gerade geschrieben hatte. Mit kritischem Blick wurde der Text korrigiert, durchgestrichen, überschrieben, und dann hatte sie sich von neuem an den Schreibtisch gesetzt, ein frisches Blatt eingezogen, und das Tippen ging weiter. Klara konnte sich an keinen Tag ihrer Kindheit erinnern, an dem ihre Großmutter Ella nicht geschrieben hatte. Bis Ella dann krank wurde und das Bett nicht mehr verlassen konnte. Dann hatte es auch nicht lange gedauert, bis sie gestorben war. 

 

Klara rannte die Steinstufen des Universitätsgebäudes hinauf, durch verschiedene schwere Schwingtüren bis zum großen Vorlesungssaal. Zwei Stunden Philosophie lagen vor ihr - Karl Jaspers, Hannah Arendt und weitere Größen des 20. Jahrhunderts. Klara interessierte sich sehr für Menschen die etwas geschrieben hatten, das so wichtig war, dass man es heute in einem Studium behandelte. Wie wurde das eigentlich entschieden? Wie wurde entschieden was es wert war studiert zu werden und was nicht? Manchmal kamen Klara Zweifel an ihrem Germanistik- und Philosophiestudium. Sie wollte ja eigentlich nur schreiben. Große, wichtige Dinge. In Geschichten eingewoben. Essays, Romane. Aber das lernte man im Studium eigentlich nicht, sondern nur wie man das Geschriebene anderer wichtiger Menschen interpretierte. Man analysierte tote Literaten und Philosophen und diskutierte ausgiebig, warum sie geschrieben hatten was sie geschrieben hatten. Natürlich im Kontext der Zeit.

 

Klara musste sich eingestehen, dass sie das Leben dieser Menschen wesentlich spannender fand als ihre Texte. Wie hatten sie es geschafft vom Schreiben zu leben? Keiner geregelten Arbeit nachzugehen, sondern einfach nur zu schreiben und darin ganz zu versinken? Ihren Ideen nachzugehen, Geschichten aufzuspüren, um sie aufzuschreiben? Hatten diese Menschen keine Angst gehabt, wo das Geld für die Miete im nächsten Monat herkommen würde? Dies hätte Klara viel interessanter gefunden als ihre Texte zu analysieren. 

 

Nach der Vorlesung war Mittagspause. Klara ging am liebsten in den Universitätspark, und heute war es sonnig und warm. Sie würde sich unter einen Baum legen und ihre Geschichte überarbeiten, die sie nach dem Schreiben heute morgen schnell zwischen ihre Bücher gesteckt hatte, bevor sie losgestürmt war. Den Rotstift hatte sie auch dabei. Immer dann, wenn sie etwas Selbstgeschriebenes überarbeitete, hatte sie das Gefühl ihre Großmutter Ella sitze neben ihr und schaue ihr über die Schulter. Manchmal glaubte Klara ein zustimmendes “Mmmm” zu hören, manchmal wies ein imaginärer faltiger Zeigefinger auf einen Satz, der etwas hölzern erschien. 

 

Klara war in ihre Arbeit vertieft und vergass die Zeit um sich herum. Erst als sie die ganze Geschichte überarbeitet hatte, blickte sie auf und rieb sich die Augen. Sie streckte ihren Rücken und schaute sich um. Wieviel Uhr war es wohl? Es war sicher schon Zeit für ihre Nachmittagsvorlesung. Sie hatte sich nicht vorbereitet. Aber es war noch lang bis zur nächsten Klausur. In der Nähe auf einer Parkbank fiel ihr eine junge Frau auf. Sie war klein und zierlich, und hing gebeugt über einen Stapel Papier auf den sie eifrig schrieb. Klara war oft in diesem Park, aber diese Frau hatte sie noch nie hier gesehen. Sie war seltsam angezogen. Ihre Kleidung erschien altmodisch und ihre Frisur auch. War das ein neuer Retro-Look? Klara hatte keinen Blick für solche Dinge, denn Mode interessierte sie nicht. Ihr knappes Geld ging meistens für Bücher drauf und sie trug ihre Kleidung immer so lange wie möglich. 

 

Irgendwie kam Klara diese Frau bekannt vor. Und Ihr Eifer, die Art und Weise wie sie in ihr Schreiben vertieft war, faszinierte sie. Die Frau hatte die Welt um sich herum vergessen, das war klar. Woher kannte Klara sie nur? Klara dachte angestrengt nach. Und was machte sie wohl hier im Universitätspark? War sie eine Studentin? Sonst war niemand mehr im Park; die Nachmittagsvorlesungen hatten sicher schon angefangen, aber das war Klara jetzt egal. Sie fand es viel spannender hier etwas Neues, Lebendiges zu erfahren, als Bücher und Texte zu analysieren. Die Geschichten lagen auf der Straße, davon war Klara überzeugt. 

 

Kurzentschlossen stand sie auf, strich sich den Rock glatt und klaubte ihre Bücher und Papiere auf. Die Frau hatte noch keine Notiz von ihr genommen. Sollte sie sie wirklich stören? Was sollte sie sagen? Klara zögerte. Sie musste sich irgendeinen Grund überlegen warum sie im Park eine wildfremde Frau ansprach. Konnte man nicht einfach ehrlich sein? Sagen, dass man jemanden interessant fand und als angehender Schriftsteller auf der Suche nach Gegebenheiten und Menschen war die man in Geschichten verwebte? Klara lächelte. Selbst diese Erfahrung die sie gerade machte, war schon wert, aufgeschrieben zu werden. Ihr Zögern, ihr Argumentieren mit sich selbst. Sie nahm einen tiefen Atemzug und ging langsam auf die Frau zu. 

 

Selbst als sie sich ihr näherte, blickte die junge Frau nicht auf. Fast hektisch füllte sie Seite um Seite mit ihrer krakeligen Schrift. Die Worte schienen ihr von überall her zuzufliegen. 

 

“Hallo…ehm…guten Tag!”

Die junge Frau fuhr hoch und blickte schnell um sich. 

 

“Entschuldigen sie bitte, ich wollte sie nicht stören…ich wollte nur…nun ja, ich saß dort hinten unter dem Baum und schrieb auch…und ich…ich war irgendwie fasziniert von ihnen, wie sie hier sitzen und so tief versunken schreiben….”

 

Klara kam sich blöd vor. 

Die junge Frau blickte sie erst verwirrt an, dann öffnete sich ihr Gesicht zu einem Lächeln. 

 

Klara schoss es heiß und kalt durch den Körper. Diese Ähnlichkeit! Das war unglaublich. Klara wurde schwindlig. 

 

“Guten Tag!” 

Die junge Frau hatte eine helle, sympathische Stimme und streckte Klara ihre Hand dynamisch entgegen. 

 

“Ich freue mich Sie kennenzulernen! Mein Name ist Ella Kaufmann.”

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Maria (Samstag, 18 November 2017 19:17)

    Sehr interessant und fesselnd , würde liebend gerne weiterlesen... anregend, viele verschiedene Gedanken schießen einem in den Kopf.. ...