Möglichkeiten

 

Ich sitze auf meiner bequemen braunen Couch im Schneidersitz, das Laptop auf dem Schoß, gestützt durch ein Sofakissen. Vor mir ein dampfender Tee. 

 

Durch das Fenster rechts von mir scheint die Morgensonne herein. Bis eben noch hatte ich es geöffnet und frische Luft wehte mir um die Nase, doch jetzt ist das Fenster zu und ich genieße die Stille. Nur noch ganz entfernt ist die Stadt zu hören, als wäre sie weitergezogen und hätte mich hier alleine zurückgelassen in meiner hellen, ruhigen Dachwohnung. 

 

Lange habe ich mit mir gehadert, und nun ist es getan. Ich bin umgezogen. Tatsächlich. Ich habe mein Haus verlassen, um zu sehen wie es ist, woanders zu leben. Und anders zu leben. 

 

Meine Wohnung besitzt alles was mir gefällt. Ein großes gemütliches Bett mit Morgensonne. Eine Ecke mit meinen Büchern und einem bequemen Sessel. Meinen alten Kolonialschreibtisch vor einem Fenster mit Weitblick und genügend Papier und Stifte. Eine Couch mit Decke zum Einkuscheln vorm Fernseher. Eine kleine Küche und ein Bad mit Wanne. Ein Klavier an der Wand. Einen Platz mit Aussicht für meine Yogamatte und einen Balkon mit Abendsonne über der Stadt. 

 

Die Dachschrägen und Holzbalken erinnern an ein Vogelnest, in dem ich mich geborgen fühle, wenn draußen der Wind pfeift und der Regen peitscht. Auf den großen Fensterbänken der kleinen Sprossenfenster kann man über den Heizkörpern sitzen und nach draußen schauen. Die Wohnung liegt ganz oben, im 8. Stock und ich höre nichts von den anderen Bewohnern des Hauses. Es ist ein altes, erhabenes Haus mit knarrenden Holztreppen direkt an einem kleinen Marktplatz. Meine Dachgeschoß-Wohnung wurde erst kürzlich ausgebaut, mit schönen Materialien, Parkettboden und klaren Farben. 

 

Unten im Erdgeschoß befindet sich auf der einen Seite eine gutsortierte Buchhandlung und auf der anderen Seite ein schönes Café, vor dem bei schönem Wetter kleine Tische stehen. Morgens, nach einem ausgiebigen Spaziergang am Fluß, gehe ich meist in das Café, lese Zeitung, beobachte Menschen und schreibe ein wenig. Es ist ein gemütliches Café, wo man drinnen oder draußen locker ein paar Stunden verbringen kann, ohne das Gefühl zu haben zu stören. 

 

Einige Nachmittage in der Woche arbeite ich in der Buchhandlung, als Aushilfe, denn ich mag es, mich mit Büchern, und Menschen die Bücher mögen, zu umgeben. Das kam ganz spontan, da ich am Anfang viel Zeit in dem Laden verbracht habe, um in Büchern zu blättern und welche zu bestellen. Ich habe Buchhandlungen schon immer geliebt und sie sind meine erste Anlaufstelle in einer Stadt. Buchhandlungen beruhigen mich und machen mich glücklich. Besonders kleinere, mit Ecken und Sitzgelegenheiten. So kamen Ella, die Besitzerin, und ich regelmässig ins Gespräch und wir waren uns gleich sympathisch. Ich erzählte ihr, dass ich neu ins Haus eingezogen sei und viel Zeit habe. Das fand sie erst einmal ungewöhnlich. Die meisten Menschen scheinen einen genauen Plan zu haben, wie ihr Leben abläuft und beschweren sich dann leider oft über zu viel Enge. Oder die Menschen sind älter und in Rente, und anstatt sich über die Freiheit zu freuen, nichts tun zu müssen, beschweren  sie sich über Leere und Einsamkeit.

 

Auf jeden Fall macht es mir wirklich Spass, in Ellas Laden neue Bücher auszupacken, zu sortieren und in die Regale zu räumen, und Kunden zu helfen, die vorsichtig den Laden betreten und erstmal nur schauen wollen, dann aber doch eine Frage haben. 

 

Ansonsten schreibe ich. Und gehe. Beobachte. Und schreibe wieder darüber. Sitze im Park und am Fluß. Freue mich über mein Leben. Ein einfaches, ruhiges Leben. Ungefähr einmal im Monat fahre ich mit dem Zug ans Meer, das ist nur eine knappe Stunde entfernt, und dann laufe ich am Strand auf und ab, breite meine Arme aus und nehme diese unglaubliche Weite und Frische in mich auf. Manchmal bleibe ich sogar dort für ein paar Nächte, tue so, als wohnte ich am Meer. Dann zieht es mich wieder zurück in meine wohlige Dachwohnung. 

 

Ich finde meine Wohnung auch so angenehm, weil ich von meinem Schreibtisch aus das Treiben auf dem Marktplatz überblicken kann. Das Viertel, in dem ich wohne, ist nicht sehr touristisch, die Menschen bewegen sich entspannt und bleiben stehen für einen Schwatz. Dreimal in der Woche gibt es den Wochenmarkt, auf dem ich mich mit frischem Obst und Gemüse eindecke. Ich empfinde es als puren Luxus, einfach hinunter vor die Tür zu gehen um frische Lebensmittel zu kaufen, in einem Café zu sitzen oder in einem Buchladen zu stöbern. Oft sitze ich am Fenster und beobachte das Wetter und wie es das Verhalten der Menschen beeinflußt, lässt sie schneller gehen oder verweilen. Sich zusammenkauern oder öffnen und freundlich lachen. 

 

Ich habe mir oft überlegt, ob so ein Leben in der Stadt mir wirklich gefallen könnte, da ich in einem Dorf aufwuchs und seine Stille und die Nähe zur Natur sehr schätze. Meine Stadt ist da ideal. Sie besteht aus kleineren Vierteln, die wie kleine, eigenständige Städte wirken und hat schöne, grüne Parks. Außerdem kann man sich am Ufer des Flusses aufhalten, der durch die Stadt fließt und von Spazierwegen begleitet wird. Der Fluß ist auf dem Weg ins Meer, das bald zu erreichen ist, und bis dorthin durchquert man dörfliche Landschaft. Manchmal nehme ich das Rad und fahre hinaus aus der Stadt, am Fluß entlang bis in die Dörfer. Es ist tatsächlich alles da. Und ich habe diese Stadt nicht bewusst ausgesucht. Eben gerade dann, als ich aufhörte zu grübeln, wo ich wohl leben wollte oder könnte, und augenscheinlich zufällig in einer Stadt war, aus Gründen die mir nicht einmal mehr einfallen, stand ich auf diesem Marktplatz und wusste, dies würde mein neues Zuhause. 

 

Die meisten Wege in der Stadt erledige ich zu Fuss. Ich besitze tatsächlich nur noch bequeme Schuhe und Regenjacken verschiedener Dicke, damit ich immer los kann. Es ist wie ein Dialog zwischen dem Wetter und mir. Ich schaue hinaus, lächele den Himmel an und sage dem Wetter, wenn es grau und regnerisch ist, ‘ich komme, du hältst mich nicht auf’. Manchmal setze ich mich in einen Bus und fahre einfach herum. Das ist dann nicht um ein Ziel zu erreichen, sondern um Viertel zu sehen und Menschen zu beobachten. Alle scheinen genau zu wissen wo sie hinwollen. Gehen schnellen Schrittes. Schauen geradeaus. Ziehen Kinder hinter sich her oder Trolleys. Schleppen Taschen und telefonieren dabei. 

 

Ich bin also neu in der Stadt und meine Kontakte mit ihren Bewohnern bleiben freundlich und flüchtig. Das gefällt mir. Man nimmt Notiz von dem anderen, aber lässt ihn seinen Weg gehen. Wenn ich offen dafür bin, gibt es einen freundlichen Plausch, manchmal sogar ein kurzes, tieferes Gespräch. Aber ich muss mich nicht auf Freundschaften einlassen, die eine Regelmässigkeit in mein Leben bringen, sondern kann neu bleiben, bei mir bleiben, den Zauber des Neuen bewahren, jeden Tag so tun, als sei ich im Urlaub. 

 

Tatsächlich habe ich das Gefühl, ich sei hier nur auf Zeit, so wie im Urlaub. As sei ich in einer besonderen Situation, anders als die anderen, die ihren alltäglichen Routinen folgen, sich vernetzt haben. 

 

Vielleicht weil ich auch jederzeit wieder gehen könnte. In eine andere Stadt, in ein anderes Land. Ich fühle mich nicht verwurzelt mit dem Ort, und doch ist er mir angenehm heimisch. Er drängt sich mir nicht auf und absorbiert mich, sondern bietet sich an, auf zurückhaltende Weise, und ich nehme davon nur soviel wie ich möchte.  

 

Vielleicht habe ich dieses Gefühl auch, weil ich keiner geregelten Arbeit nachgehe, sondern meistens schreibe und lese oder nichts Besonderes tue. Gelegenheitsarbeiten nehme ich nur an, wenn sie  mir gerade gefallen, wie die Stunden in der Buchhandlung. Ich könnte zum Beispiel auch in einem Café älteren Menschen in einer Nachmittags-Matinée Literatur vorlesen, auf dem Wochenmarkt Smoothies zubereiten oder Kindern die Magie der Bäume in den Parks nahebringen. Oder eben nichts tun. 

 

Es ist spannend, für eine Zeitlang in eine beliebige Tätigkeit einzutauchen und ihre Besonderheiten zu erfahren, ohne den Druck es tun zu müssen. Wahrscheinlich wirkt das unnatürlich auf die Menschen, die arbeiten um Geld zu verdienen oder um sich zu verwirklichen. Das habe ich auch einmal gemacht. Jetzt bin ich wie im Urlaub. Im Retreat. Habe mich zurückbesinnt auf mich. Erlaube mir zu sein und zu leben, aus dem Moment heraus zu erfahren, anstatt zu planen und zu strukturieren, anstatt mir zu überlegen was ich in den Ferien tun könnte. Ich tue es einfach jetzt. Und mir fehlt tatsächlich nichts. Und wenn mir etwas fehlte, könnte ich meine Situation dahingehend verändern. 

 

Vielleicht habe ich dieses Gefühl auch, weil ich hier alleine lebe und mich nicht einsam fühle. Das Alleinsein hat den Vorteil, keine Ablenkung von sich selbst zu haben. 

 

Das ist erst einmal unangenehm, da es so normal zu sein scheint, immer mit anderen Menschen zu sein. In der Familie, auf der Arbeit, in der Beziehung, im Freundeskreis. Man spricht eigentlich andauert und über alles. Analysiert, bewertet, erklärt, erzählt, rechtfertigt, mutmaßt, zweifelt, belächelt, beschimpft, umschmeichelt, manipuliert, massregelt, erzieht, lügt, offenbart. Und da das Gegenüber darauf reagiert, gibt es immer etwas zu tun. Man strukturiert und regelt sein Leben anhand der Menschen die einen umgeben und mit denen man in Austausch tritt. Um 08h auf der Arbeit sein. Mittagessen mit Biggi. Feierabendbier mit Mike. Die Kinder von der Kita abholen. Yoga mit Ilka. Laufen mit Horst. Den Onkel zum Arzt fahren. Frühstück mit Anna. Kino mit Manfred. Abendessen mit Susanne. Einkaufen für das Abendessen mit Freunden am Freitag.

 

Wenn all diese Beziehungen wegfallen, komme ich mir erst einmal komisch vor. Alle haben etwas zu tun, nur ich nicht? Dann merke ich langsam, dass es Geschäftigkeit ist. In der Gesellschaft ist es gut seinen Platz zu kennen, etwas zu tun zu haben, sich beruflich zu verwirklichen, eine Familie zu gründen. Alle haben etwas zu tun. Also ich besser auch. Der Mensch ist ein Herdentier und braucht den sozialen Kontakt zu anderen. 

 

Hmm. Ist das wirklich so? Oder könnte man auch auf eine Weise leben, in der man sich seinen Kontakt zu anderen Menschen bewusst wählt? Nicht aus Geschäftigkeit, Retter-Impuls, Angst vor Einsamkeit und Sinnlosigkeit oder aus dem “Das ist halt so”/“Das macht man so”-Syndrom heraus? Ich habe viel darüber nachgedacht, als ich noch Teil der herkömmlichen Strukturen eines menschlichen Lebens war. Und eben da ich Teil der Strukturen war, konnte ich auch gar nicht hinaus. Erst als ich bereit war, innerlich loszulassen, lösten sich alle Strukturen von selbst auf, wie Zucker im Regen. Schmolzen einfach dahin, und obwohl ich wusste, dass es richtig so war, wehrte ich mich. Hatte Angst, das Loslassen später einmal zu bereuen. 

 

Nun sitze ich immer noch hier. Habe mich von der Couch wegbewegt, an meinen Schreibtisch. Es dämmert schon und draußen hat es begonnen zu regnen. Der Marktplatz ist leer. Gleich wird er nach Hause kommen. Ja, ich bin allein, und bin es doch nicht. Mit vorsichtigen Schritten versuche ich Souveränität zu zweit. Manchmal fühlt es sich an wie die alten Beziehungsabhängigkeiten. Manchmal fühlt es sich so neu an, dass ich gar nicht weiß, wie ich außerhalb meiner alten Verhaltensmuster reagieren soll. Ist es möglich eine Beziehung zu führen rein aus Spaß an der Erfahrung, ohne dass sie zu einer eingefahrenen Routine wird und man sich irgendwann seine gegenseitigen Erwartungen an den Kopf wirft? 

 

Alleinsein hilft. Auf beiden Seiten. Schafft Perspektive. Und Ehrlichkeit miteinander hilft, besonders wenn man gerade nicht weiter weiß und sich in sich verkapselt. Es hilft auch, die Beziehung nicht für selbstverständlich  zu halten, da jeder frei ist in jedem Moment zu gehen. Sie nicht als Sicherheitsnetz zu sehen, sondern als Bereicherung der eigenen Souveränität. 

 

Brauche ich eine Beziehung um glücklich zu sein? Nein. 

Macht es mir immer noch Spaß eine Beziehung zu versuchen? Ja. 

Vielleicht war dies die letzte und endet morgen. 

Vielleicht wächst sie stetig und leise vor sich hin bis ich diese Erde verlasse. 

 

Ich höre wie der Schlüssel im Schloß leise knackt. Für einige Zeit ist er zu Besuch hier bei mir. Dann wird er weiterziehen. In eine andere Stadt oder ein anderes Land. Seinen Dingen folgen. Vielleicht besuche ich ihn dort. Oder wir treffen uns irgendwo. Oder wir sehen uns für einige Zeit nicht, weil jeder mit sich selbst beschäftigt ist. Wir leben intensiv gemeinsam und alleine. Für den Moment. Ohne Planung. Es fühlt sich gut an. 

 

Ist es wirklich möglich so zu leben? 

 

 

Ja. 

 

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Kommentare: 4
  • #1

    Marga (Samstag, 20 Januar 2018 21:05)

    Eine super Geschichte ! Spricht mich an !
    Ich fühle die Freude und Leichtigkeit ein freies ungeplantes Leben ���

  • #2

    Tania (Montag, 22 Januar 2018 12:26)

    Danke für deine Möglichkeiten-Geschichte!

  • #3

    Karola (Donnerstag, 01 Februar 2018 22:47)

    Danke Dani, für diese wunderbar atmosphärische Erzählung. Fühle die Leichtigkeit und Freude, die Spontanität. Das Sein geniessen, alle Möglichkeiten offen lassen.

  • #4

    Annette (Montag, 05 Februar 2018 15:55)

    Richtig oder wahr, Traum oder Realität ? Man kann es erraten, aber auch wieder nicht ! Alle Möglichkeiten sind offen !