
Die Dinge kommen zu mir.
Das weiß ich.
Vor allem tun sie das, wenn ich mir nicht gerade selbst im Weg stehe.
Es gibt jeden Tag Beispiele dafür, wenn man nur genau hinschaut.
Dies ist der erste Teil einer Fortsetzungsgeschichte…mal sehen wo es hinführt!
Teil I: Glücksmomente
Samstag, 23. Dezember 2017
Einen halben Tag lang bin ich in der vollen Stadt herumgelaufen, um Weihnachtsgeschenke zu finden. Habe keine Inspiration. Gar keine.
Ich sehe Menschen zielstrebig mit Tüten von Geschäft zu Geschäft eilen und ich laufe dazwischen etwas unbeholfen herum. Vorbei an Weihnachtsgesängen auf dem großen Marktplatz, dort, wo bis gestern noch die Buden des Weihnachtsmarkts standen. Schließlich lande ich in Buchläden. Verschiedenen Buchläden. Das ist meistens so, wenn ich mich ein bisschen verloren fühle. Ich schlendere herum, schaue Bücher an, nehme sie in die Hand, blättere, lese. Ich merke schnell, mehr geht heute nicht.
Und wie wäre es also mit einem Buch für mich?
Bald habe ich einen Stapel von Büchern zusammen, die mich ansprechen. Es sind solche, die ich schon länger in Buchrezension-Podcasts oder -Sendungen verfolge. Vielleicht verfolgen sie auch mich. Ich lasse mich auf einem Sofa inmitten der Menschen nieder und beginne zu fühlen, welches der Bücher meins sein könnte.
Nach fünfzehn Minuten gebe ich auf. Keines ist meins. Ich schaue mich um, lasse den Stapel einfach liegen, entferne mich unauffällig und gehe zu einem anderen Bücherregal. Ein Buch sticht mir ins Auge mit rot-weißem Cover. ‘Der Stift und das Papier’ heißt es. Das ist mein Buch! Es zieht mich magisch an. Ein Taschenbuch, ordentlich dick, der Autor sagt mir nichts. Ich blättere. Immer wieder stechen mir die Worte “Mutter”, “Vater”, “Eltern” ins Auge. Lege es zurück, darauf habe ich keine Lust. Dachte, es ist ein Buch über das Schreiben.
Ich wandere weiter. Spreche eine Verkäuferin an, ob sie mir ein Buch über das Schreiben empfehlen kann, in Romanform, kein Sachbuch. Sie nennt mir drei, die ich schon kenne. Dann führt sie mich zu dem Bücherregal, wo ich gerade herkomme.
“Da gibt es noch eins…wie heißt es nur…es hat ein rot-weißes Cover…”
“Meinen Sie ‘Der Stift und das Papier’?”
“Ja, genau! Von Hanns-Josef Ortheil!”
“Das habe ich mir eben angesehen, das ist nichts für mich. Aber es macht nichts. Vielen Dank dann!”
Ich eile davon.
Zum Parkplatz, Auto holen, habe keine Lust mehr, möchte nach Hause.
Auf der Fahrt fällt mir ein, dass es noch einen Buchladen in einer kleineren Stadt gibt, die auf meinem Heimweg liegt. Ich schiele zur Uhr, gleich eins - wie lange die wohl geöffnet haben am Heiligabend? Ich versuche es. Zielstrebig lenke ich mein Auto zum zentralen Parkplatz, gehe auf den Buchladen zu. Ich war hier erst einmal, er ist recht klein.
Der Laden hat noch geöffnet und sein Besitzer trinkt gerade mit zwei Stammkunden an der Kasse Sekt. Als ich zur Tür hereinkomme, wollen sie gerade anstoßen. Der Ladenbesitzer lässt das Glas wieder sinken und schaut mich an.
“Guten Tag, kann ich Ihnen helfen oder schauen Sie nur?”
Ich lächele. Der kennt sich aus.
“Ich schaue nur, danke, bitte lassen Sie sich nicht stören. Wenn ich etwas brauche, melde ich mich. Wie lange haben Sie noch geöffnet?”
“Bis 14h. Wir gehen dann raus eine rauchen, wenn Sie uns nicht brauchen.”
“Ja klar, kein Problem.”
Die drei amüsieren sich über den ungewollten Reim des Ladenbesitzers und ich beginne durch die Bücherreihen zu wandern. In einem kleinen Laden gehe ich von vorne nach hinten und von hinten nach vorne und scanne alle Buchtitel mit schrägem Kopf. Meistens mache ich das zwei, drei Mal und sammle dabei Bücher ein, die mich interessieren.
Ich tauche völlig in die Titel ein, aber keines springt mich so sehr an, dass ich es in die Hand nehme oder gar mitwandern lasse. Die drei Sekttrinker kommen vom Rauchen zurück und setzen ihr Schwätzchen an der Kasse fort. Ich wandere weiter. Lausche dem Gespräch mit halbem Ohr, als ich plötzlich innehalte. Vor mir steht ein kleines, recht dünnes Büchlein in hellem Leinen eingebunden. Es heißt ‘Glücksmomente’. Ich nehme es. Es fasst sich gut an. Es strahlt Ruhe und Helligkeit aus. Ist es eines dieser zahlreichen esoterischen “positiv-Denken”-Bücher? Ich blättere. Da kommt eine ganz andere Energie raus. Gelassenheit, Tiefe, Schönheit, Freude, Ruhe. Das Büchlein muss nicht gefallen, es ist einfach so wie es ist. Ich blättere. Hanns-Josef Ortheil? Habe ich diesen Namen nicht schon einmal gehört?
Die Ladentür klingelt, zwei Frauen treten ein. Ich schaue auf die Uhr, 13.40h. Sie scheinen den Besitzer zu kennen, begrüssen ihn überschwänglich. Nein, Sekt wollen sie nicht. Nur noch nach einem letzten Geschenk suchen. Ich stehe immer noch herum und halte die ‘Glücksmomente’ in der Hand. Blättere noch einmal. Unschlüssig. Es fühlt sich gut an. Soll ich es kaufen?
Plötzlich eine leise Stimme neben mir, die jüngere der beiden Frauen.
“Sie müssen ‘Die Erfindung des Lebens’ von ihm lesen. Das ist wunderbar.”
Ich drehe mich um und schaue in ein lächelndes Gesicht. Sie nickt vielsagend und geht weiter, bevor ich etwas sagen kann.
Da nicht mehr viel Zeit bleibt, bis der Laden schließt, spreche ich den Besitzer an, der gerade die leeren Sektgläser einsammelt.
“Haben Sie weitere Bücher von Ortheil?”
Er schaut auf und kommt hinter der Kasse hervor.
“Ortheil, ja klar, der ist ja hier bekannt wegen seiner ‘Moselreise’.”
“Aha?”
“Ja, kennen Sie den nicht? Ist aus Köln, ganz bekannter Autor. Aber mein Stil ist es nicht.”
“Habe ich tatsächlich noch nie gehört.”
“Ich habe ‘Der Stift und das Papier’ von ihm und ‘Die Erfindung des Lebens’. ‘Die Moselreise’ müsste ich bestellen.”
Er blickt auf das Leinenbüchlein in meinen Händen und lächelt.
“Aber Sie scheinen sich ja schon entschieden zu haben.”
Ich schaue erst ihn an, dann die ‘Glücksmomente’.
“Ja, vielleicht haben Sie recht. Ich kann ja damit mal anfangen.”
Wir gehen zur Kasse.
“Soll ich es als Geschenk verpacken?”
“Nein, danke, es ist für mich. Ein Geschenk für mich.”
“Da haben Sie mal recht. Das sind die besten Geschenke.”
Die beiden Damen stimmen mir zu, auch sie haben ihre Auswahl getroffen. Ich wünsche ein frohes Fest und fahre irgendwie glücklich nach Hause.
Am Nachmittag braut sich ein inneres Gewitter zusammen und ergießt sich am frühen Abend in einer handfesten Migräne über mich. Hektisch schlucke ich Aspirin und lege mich hin, schließe die Augen vor den wilden Lichtblitzen. Eine richtige Migräne hat mich früher mehrmals in die Notaufnahme des nächsten Krankenhauses gebracht; da will ich heute auf keinen Fall hin. Ich liege mit Kopf-Eisbeutel auf dem Sofa und versuche ruhig zu atmen. Ich habe gelernt, damit umzugehen, nicht zu analysieren was passiert, nicht in Panik zu geraten, sondern es zu akzeptieren und ruhig dabei zu atmen. Vorwürfe und Fragen, was ich wohl falsch gemacht habe, dass jetzt, am Wochenende, in meinen Ferien, kurz vor den Feiertagen eine Migräne kommt, helfen jetzt überhaupt nicht. Ich spüre, wie der Schmerz dumpfer wird, sich verteilt, mich in absurde Tiefen führt, weg von dieser Realität, aber ich bleibe auf der Spur meines Atems. Eine Welle der Unsicherheit und Angst überkommt mich, aber mein Atem ist der Weg, auf dem ich bleibe. Er führt mich durch das dunkle Tal und auch wieder hinaus. Dieses Licht meines bewussten, sanften Atems darf ich nicht verlieren, nichts anderes zählt jetzt. In Gedanken wiederhole ich immer wieder den Satz “Ich vertraue mir. Es ist in Ordnung. Mir passiert nichts.” Ich verlasse diese Welt irgendwie und komme wieder zurück. Keine Ahnung, wieviel Zeit vergangen ist. Ich fühle mich emotional, schwach, verletzlich, ängstlich, aber der Schmerz wird erträglicher.
Ich ziehe die Decke bis ans Kinn, jetzt kommt der Schüttelfrost. Auch das kenne ich schon, mein Körper geht mit der Migräne um, er transformiert sie, denn ich habe entschieden nicht ins Leiden zu gehen. Ich öffne vorsichtig die Augen. Die Realität ist erkennbar. Meine Sicht klarer. Mein Atem fließt. Ich bin ruhiger. Aber zum Aufstehen fühle ich mich zu schwach. Intuitiv greife ich nach dem kleinen Leinenbüchlein, das auf der Sofalehne liegt und schlage die erste Seite auf. Es erscheint mir unmöglich, jetzt etwas zu lesen, und doch tue ich es. Ich versuche den ersten Satz zu lesen. Die Migräne blockiert mich meist so, dass ich nicht einmal den Sinn von Worten noch verstehe. Ich lese den Satz noch einmal. Es ist ein einfacher, leichter, frischer, einladender Satz. Er scheint mir zu sagen ‘lass dir Zeit, mich zu verstehen. Lies einfach weiter.’ Ich lese die erste Seite ohne etwas zu verstehen. Atme, akzeptiere. Lasse Spannung los. Und beginne wieder von vorne mit der Seite. Es kommt mir vor wie ein Gespräch. Jemand spricht mit mir, erzählt mir etwas. Ich nehme mir Zeit zwischendurch, schließe die Augen immer mal wieder. Jetzt kommen die Worte langsam in meinem Kopf an und verwandeln sich in Verstehen. Ich kann spüren wie meine Synapsen sich langsam wieder verbinden. Ich lese und atme. Langsam, bewusst, als ginge es um mein Leben. Als gäbe es gerade nichts Wichtigeres. Gibt es auch nicht.
Das Buch enthält kleine Geschichten, Ausschnitte aus Ortheils diversen Büchern. Er hat besondere Glücksmomente aus seinen Romanen hier zusammengefasst. Ich bin begeistert und gerührt. Das Buch macht mich ruhig und klar. Es erzählt von ganz einfachen Situationen und ihrer ganzen Schönheit. Es erzählt vom Leben. Einfach leben. Ich fühle mich wohl. Alles ist in Ordnung. Alles darf sein. Mein bewusster Atem und die Geschichten fügen mich wieder zusammen.
Die ‘Glücksmomente’ begleiten mich über die Weihnachtstage. Ja, ich nehme das kleine Büchlein sogar überall hin mit, um immer darin lesen zu können, wenn ich es möchte. Ich schlage eine beliebige Seite auf und lasse mich in ein paar Sätze hineinsinken. Das Büchlein ist mein Begleiter, und ich beginne zu lächeln, wenn ich an es denke.
Heute liegt es in zentraler Position in meinem Wohnzimmer und ich lächele ihm zu, wenn ich vorbeigehe.
Das ist mir noch nie passiert.
…Fortsetzung folgt…
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Marga (Donnerstag, 01 Februar 2018 18:28)
Ich liebe die Bücher von Otrtheil : der Typ ist da !
Habe ich gestern gekauft .
Ich liebe seine einfache Sprache !
Schön wie du das alles beschreibst ! ��
Karola (Donnerstag, 01 Februar 2018 23:04)
Danke Dani, ich freue mich auf die Fortsetzung �
Hubert (Freitag, 02 Februar 2018 07:56)
Glücksmomente sind Momente eines besonders intensiven „Ich bin’s“, hier und jetzt, in denen man plötzlich weiß, wie man sein will! (Ich weiss nicht wo ich das her hab, aber es fühlt sich gut an ! Auf jeden Fall genießt diese glücksmomente!
Tania (Freitag, 02 Februar 2018 17:26)
Ich liebe deine Geschichten. Danke...bin immer wieder berūhrt. Weiß nicht warum. Ist auch nicht wichtig...ich fūhle es jetzt einfach, das tut gut � so �
Nadine (Samstag, 03 Februar 2018 16:31)
Sehr schöne Erzählung
Spricht mich zur Zeit sehr an