
18. Januar 2018
Der Anfang des neuen Jahres ist durchwachsen. Gesundheitliche Probleme, mein Körper fühlt sich an, als fiele er auseinander, alles nervt mich, Stress auf der Arbeit. Ich habe Ende letzten Jahres viel Licht in dunkle Ecken gelassen, Dinge hinterfragt, die so selbstverständlich scheinen in meinem Leben, und ich habe die Wahl getroffen, loszulassen, was mich blockiert. Jetzt habe ich das Gefühl, dass alte Aspekte aus ihren dunklen Löchern kriechen und mich übermannen, sie zwingen mich in die Knie. Ich komme nicht zum Schreiben, bin rastlos. Nicht einmal zum Lesen komme ich. Ich kenne diese Transformationsphasen und weiß, daß sich gerade viel an alten Mustern löst, aber gleichzeitig mein existierendes Leben weiterzuleben, ist herausfordernd.
Mein Körper möchte viel Aufmerksamkeit, ich gebe ihm viel Wasser von innen und außen und beginne wieder grüne Smoothies zu trinken. Ich stehe plötzlich auf Orangen und grüne Weintrauben, die habe ich früher kaum angerührt. Kopfschmerzen fast jeden Tag. Starke Verspannungen im Rücken, fühle mich wie in einem Korsett. Es gibt dieses Bild des Phoenix, der aus der Asche aufsteigt, und ich fühle mich gerade wie Phoenix in der Asche. Alles verbrannt und keine Ahnung, dass ich fliegen kann. Ich bin wütend und ungeduldig, zermürbe mich selbst mit Gedanken und Druck. Energie dreht und windet sich, staut.
Bei einem spirituellen Spiel mit Freunden einige Tage nach Jahresbeginn stelle ich die Frage ‘Was hindert mich daran auf mich selbst zu hören?’ und es kommen aufschlussreiche Antworten. Ich beginne meine eigenen Abhängigkeiten zu sehen, Abhängigkeit von Bestätigung, Anerkennung, Liebe und Sicherheit durch andere Menschen. Wie ich versuche, es allen recht zu machen. Ich erkenne, dass ich materielle Sicherheit als eine Voraussetzung für Veränderung sehe. Dass ich Angst vor Schmerzen habe und davor, die Kontrolle zu verlieren. Angst, nicht mehr hineinzupassen in diese Welt und in das was man dort so tut. Ich mache mir mein eigenes Kopf-Gefängnis bewusst, das ich nicht verlasse, obwohl die Gefängnistür offen steht. Es ist ein schmerzhafter Prozess, der jeden Tag neue Überraschungen bringt an Ängsten, Unsicherheiten und Stimmungen. Gleichzeitig passieren Dinge, die letztes Jahr noch nicht möglich gewesen wären.
Ich atme und erlaube all das. Ich war schon immer anders, aber jetzt kann ich mich nicht mehr verstecken. Ich gehe durch die Ängste hindurch, sie sind nicht real. Ich entscheide, was zu mir gehört und was nicht. Was hochkommt, darf gehen. Alte Schatten, Härte und Widerstand. Kann ich die Schönheit in all meinen Kreationen sehen? Auch in dieser? Mitgefühl. Ruhe. Sanftheit. Ich höre auf zu kämpfen. Energien lösen sich, ordnen sich neu. Alles was zählt, ist die Frage: Was will ich wirklich für mich? Warum bin ich jetzt hier?
Am 17. Januar fahre ich für fünf Tage in eine andere Stadt, drei Stunden weg von zu Hause, zum Schreiben und Herauskommen, Abstand und neue Perspektive gewinnen. Ich lebe in einer kleinen Dachgeschoß-Wohnung, die mir sehr gefällt und gestalte die Tage, so wie ich möchte. Es fühlt sich gut an, fort zu sein von dem Gewohnten. Ich habe Zeit zum Schreiben und Lesen. Sofort kommt mir Ortheil wieder in den Sinn. Ich möchte nun einen Roman von ihm lesen. Bin mir noch nicht sicher welchen. Einige seiner Geschichten in den ‘Glücksmomenten’ haben mich sehr angesprochen, besonders die, die in Italien spielen. Anscheinend hat er ein Faible für Rom und Venedig. Interessanterweise habe ich beide Orte noch nie besucht. Ich kenne Italien sehr wenig, obwohl ich in meinem Leben schon viel gereist bin. Ortheils Erzählungen wecken in mir eine Sehnsucht nach mediterranem Flair, Wärme, Sonne, schöner Architektur und Musik. Lust darauf, draußen in Cafés auf großen Plätzen zu sitzen, draußen zu essen an lauen Abenden.
Ich laufe durch die neue Stadt, es ist grau und regnerisch. Die erste Buchhandlung spricht mich an. Natürlich kennen sie Ortheil, er hat ein ganzes Regal hier. Ich vertiefe mich in die Titel, greife zwei Bücher: ‘Die Erfindung des Lebens’ und ‘Rom, Villa Massimo’.
Der Buchhändler ruft von weitem, “Ich würde ‘Die Erfindung des Lebens’ lesen.”
Ich nicke. Jetzt ist die Zeit dafür. Ich kaufe das Buch und gehe mit meinem Schatz nach Hause, beginne sofort zu lesen und kann gar nicht mehr aufhören. Dieser Stil holt mich ab, lädt mich ein, lässt mich ruhig und bewusst werden. Ich atme und lese. Ich atme und schreibe. Ich atme und gehe.
Das Buch ist in fünf Teile unterteilt, die die ersten zwanzig Jahre eines Menschen erzählen, der in den 1950/60er Jahren in Westdeutschland aufwächst. Die Hauptperson heißt zwar anders, aber erlebt wohl das, was Ortheil erlebt hat. Zwischendurch gibt es Kapitel, die davon erzählen wie Ortheil einige Zeit in Rom lebt, sich in den Rückzug vom Gewohnten begibt, um die Geschichte seiner außergewöhnlichen Kindheit und Jugend aufzuschreiben. Aufgewachsen in Köln als Sohn einer Mutter, die durch Traumata verstummt war, blieb er selbst stumm bis zu seinem siebten Lebensjahr und lebte recht isoliert mit Mutter und Vater. Er erzählt von der Mutter, die ihm das Klavierspiel beibringt und dem Vater, von dem er das Lesen und Schreiben lernt, beides auf ungewöhnliche Weise, intuitiv und kreativ.
Es ist die dichte, atmosphärische Beschreibung der Innenwelt des Jungen, die mich fasziniert. Dieser Junge, versucht mit dieser Welt klar zu kommen, mit der Situation in der er sich befindet, mit den Möglichkeiten die sich ihm eröffnen, sowie mit den Ängsten der Eltern, die er in sich aufsaugt wie ein Schwamm. Und mich fasziniert der Gedanke, nach Rom zu gehen. In einer Wohnung an einem Platz in einem ruhigen Viertel zu leben, das Leben der Menschen zu beobachten, die ihren Dingen nachgehen, und ein Buch zu schreiben. Bei mir zu sein und das Außen wie das Innen zu betrachten.
Am zweiten Tag in der neuen Stadt entdecke ich in einem gut sortierten Zeitungsladen die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift “Federwelt”. Mir gefällt diese Zeitschrift über das Schreiben und Publizieren, und wenn mich die aktuellen Themen interessieren, kaufe ich mir die Zeitung. Mir fällt ein, dass ich die Herbst-Ausgabe verpasst haben muss, und etwas sagt mir, zu Hause danach zu googeln, da es hier im Laden nur die aktuelle Winter-Ausgabe gibt. Auf dem Cover der Herbstausgabe blickt mir Ortheil in Großaufnahme entgegen. Das Interview beginnt mit seiner Aussage “Es ist sehr wichtig, während des Tages in unterschiedlichen Tempi zu leben.” Ich google weiter, sehe, dass er neben seinen Romanen und Schreibratgebern auch Bücher über Rom, Venedig und Paris geschrieben hat.
Am dritten Tag sitze ich mit meiner Nase im Buch in einem Café. Draußen giesst es in Strömen, und ich habe einen gemütlichen Platz auf einer Couch ergattert. Neben mir zwei wild schnatternde Damen. Eigentlich schnattert nur eine von ihnen und die andere hört zu und nickt gelegentlich. Ich vertiefe mich in mein Buch. Der Junge ist jetzt in einem Internat, wo er mit den alten Isolations- und Angstthemen wieder konfrontiert wird, die auch seine kreative Entwicklung behindern.
“Entschuldigen Sie, ist das Buch gut?”
Ich blicke abrupt auf. Die stille Dame schaut mich mit großen Augen an, die andere scheint verwirrt, dass ihre Freundin mich anspricht.
“Ich wollte schon länger was von Ortheil lesen. Ich habe in Hildesheim studiert und da ist er immer rumgelaufen. Er ist ja dort Dozent. Und ich habe von ‘Rom Villa Massimo’ gehört und fragte mich, wie man darüber wohl ein ganzes Buch schreiben kann.”
Ich betrachte die Dame, Villa Massimo sagt mir nichts.
“Dieses Buch ist super. Ich kann gar nicht mehr aufhören zu lesen.”
“Gut.” Sie lächelt. “Dann kaufe ich es mir auch.”
Wir unterhalten uns noch ein wenig, die schnatternde Dame durchaus verhaltener, da sie wohl ein Zweiergespräch erwartet hatte, oder zumindest die Möglichkeit, das was sie bewegt über ihre Freundin auszuschütten.
Am Ende meines langen Wochenendes habe ich das Buch ausgelesen und finde es grandios. Ortheil hat in mir tatsächlich Sehnsucht nach Italien geweckt. Der letzte Teil des Buches ist intensiver mit Rom verknüpft, seine Erlebnisse dort als Schreiber des Buches und die Erlebnisse seines Protagonisten, der mit 18, gleich nach dem Abitur, für zwei Jahre nach Rom geht um dort Klavier zu studieren. Die Schilderung der Ankunft des Protagonisten in Rom Ende der 1960er Jahre, nach einer langen Zugfahrt in die Fremde, mit so vielen Ängsten in sich und gleichzeitig so zuversichtlich, dass jetzt alle Engen der Kindheit und Jugend vorbei sind, haben mich sehr berührt. Ich kann die Freiheit spüren, das Neue, die Natürlichkeit des Seins, die sich fern der Heimat entfaltet.
Ich bekomme Lust im Frühjahr hinzufahren, nach Italien, eine Reise zu machen nach Venedig und Rom, vielleicht sogar mit dem Zug, über München. Eine europäische Schreibreise. Auf den Spuren anderer Literaten, die diese Wege gingen. Ich weiß darüber wenig, zum Beispiel über Goethes Italien-Reise und erfahre, dass die Villa Massimo eine deutsche Akademie in Rom ist, in der deutschen Künstlern Studienaufenthalte durch Stipendien ermöglicht werden. Meine Reiselust ist wieder geweckt.
In den nächsten Tagen lese ich immer wieder Passagen aus der ‘Erfindung des Lebens’. Es geht mir gesundheitlich nicht besser, alles fühlt sich komisch an, ohne dass ich es greifen könnte. Ich führe mein Leben weiter und stelle es gleichzeitig infrage. Mich berühren die Ängste, Zweifel und Engen im Leben Ortheils und gleichzeitig das unglaublich Kreative, Entdeckerische, Neue das immer auch da ist. Wie er sich ausbreitet in seiner eigenen Welt, sein Leben erfindet, das definitiv völlig anders ist, als das anderer Menschen in seinem Alter. Dem fühle ich mich nahe.
Ich überlege wie es wäre, für einige Monate nach Rom zu gehen. Nicht nur ein Urlaub, sondern dort zu leben, zu schreiben, italienisch zu lernen, das italienische Leben zu lernen, in eine andere Kultur einzutauchen. Ich krame alte Audio-Sprachkurse heraus und versuche Nachrichten italienischer Facebook-Freunde zu übersetzen. Ich kann Französisch und etwas Spanisch und hatte auch einmal einige Jahre Italienisch-Unterricht in der Schule. Ich mag den Klang der italienischen Sprache, über die Ortheil in seinem Buch, gleich nach der Ankunft des 18jährigen Protagonisten in Rom sagt:
‘Ich habe bereits ein wenig verstanden, wie das Italienische geht. Das Italienische geht vollkommen anders als das Deutsche. Es ist ein Geben und Anbieten von Sätzen, die der Gegenüber dann wieder zurückgibt.’
Ortheil spricht die Sprache intuitiv, vor Ort. Schritt für Schritt, durch Hören, Fühlen, Wiederholen, Ausprobieren, so wie er Klavierspielen, Lesen und Schreiben gelernt hat. Spielerisch, entdeckend. Aufmerksam, bewusst. Aus Liebe zum Leben und zum eigenen Ausdruck.
Genau das ist auch mir immer wichtiger in meinem Leben.
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Marga (Dienstag, 06 Februar 2018 10:30)
Ängste , Zweifel ... Und gleichzeitig das Kreative ,
Entdeckerische ...
Gefällt mir sehr gut !
Das fühle ich auch oft so !
Heute diese Stille weisse Winterlandschaft die mich be -rührt !
Nadine (Donnerstag, 22 Februar 2018 14:36)
Ich hab mir länger Zeit gelassen um die Fortsetzung zu lesen, da ich sehr aufgewühlt bin und viel bei mir passiert. Ängste kommen hoch, Unsicherheit und genau wie du beschreibst, dieses Gefühl und für mich teils beklemmendeVorstellung in dieser Welt weiter zuleben
ICH mich zu leben.