Es kommt zu mir - Teil IV: Musikmomente

27. Januar 2018


Ich bin wieder in der Stadt. Gehe in die Buchhandlung. Frage nach Ortheil-Büchern. Es gibt nicht viele hier. Man bietet mir an, etwas zu bestellen. Aber ich habe mein Buch schon. Wieder helles Leinen, etwas dicker als ‘Glücksmomente’. Es heißt ‘Musikmomente’. Entschlossen greife ich zu, zahle und gehe. Es gibt gar keinen Zweifel, das jetzt hierfür die Zeit ist. 

 

Zu Hause tauche ich ein. Es ist Samstagnachmittag und ich beginne von den besonderen Musikmomenten im Leben Ortheils zu lesen. Er ist ausgebildeter Pianist und ein großer Kenner klassischer Musik. Er hört und spielt klassische Musik bewusst, er spricht von Klängen und Räumen, vom intuitiven Spielen und davon, dass man beim wirklichen Hören klassischer Musik nichts anderes gleichzeitig tun kann. Dass es darum geht, sich voll und ganz darauf einzulassen. Die Musik zu fühlen, in ihre Räume einzutreten. Musik ist Meditation und Ausdruck von Kreativität, göttlicher Eingebung. Verbindung mit der Quelle. 

 

Ich lese die Worte und Sätze, sie fließen durch meinen Körper, beleben ihn. Bei YouTube suche ich die klassischen Musikstücke, von denen er schreibt, über die er seine Geschichten erzählt, Geschichten, wie er zu ihnen gekommen ist, wie sie ihn gefunden haben. Ich höre bewusst zu, lese, tauche ein, lasse mich berühren von dem Gefühl der Musik, betrete ihren Raum. Ich finde ein Stück von Mozart, dass mich wirklich berührt, das ‘Andante’ des 'Klavierkonzerts in B-Dur (KV 450)’, geschrieben im Jahr 1784. Das finde ich besonders schön, denn Mozarts Werke, obwohl so unglaublich bekannt, das wohl jeder einige Takte eines Stückes mitsummen kann, hatten mich bisher nicht tief im Herzen erreicht. 

 

Manchmal kommen mir die Tränen vor Ergriffenheit über die Schönheit von klassischer Musik. Wie sie mich beruhigt und erinnert an etwas, das ich gar nicht aussprechen kann, eine Verbindung zu meiner Seele, ein Wissen daran, wo ich herkam, bevor ich in diese Welt eintrat, ein Gefühl von dem, was ich wirklich bin. Und ja, Ortheil hat recht, am besten ist es, sie ganz bewusst zu hören, diese Musik, um hineinzutreten, wie in einen großen Saal. Ich liege ausgestreckt auf dem flauschigen Teppich in der Mitte meines Wohnzimmers, habe die Augen geschlossen und fühle die Vibrationen der alten Klänge, die aktueller denn je sind. Gewisse Stücke höre ich auch beim Autofahren und vor dem Einschlafen oder nach dem Aufwachen. Nur beim Schreiben und Lesen höre ich keine Musik, da mag ich es am liebsten ganz still. 

 

Hellwach lese ich über Ortheils Erinnerungen an den Klavierunterricht. Das ist so anders, als das was ich kennengelernt habe. Auch ich habe zehn Jahre Klavier geübt als Jugendliche und dann wieder zwei Jahre bis vor kurzem. Trotzdem bin ich immer ein Blattspieler geblieben. Nimmt man mir die Noten weg, kann ich nichts spielen. Ich bin ein mechanischer Über von Stücken. Zwei Lehrerinnen und der Musikunterricht in der Schule haben versucht mir Harmonielehre beizubringen, aber ich verstehe es einfach nicht, es bleibt vor mir stehen, statt in mich einzudringen. Das hat mich immer frustriert, und ich habe keinen Zugang gefunden zu einem spielerischen, intuitiven Umgang mit Musik. Und hier nun in diesem Buch beschreibt er ihn. Ich bin begeistert, ergriffen, gerührt. 

 

Besonders faszinieren mich in diesen Tagen die Stücke von Bach und Pachelbel, also alte Musik, geschrieben vor 1750, zur Zeit des Barock. Das recht bekannte Pachelbel-Stück ‘Kanon und Gigue in D-Dur’ hat mich immer schon begeistert, und ich habe den Kanon kürzlich im Abspann eines Films wiedergehört ('Die Wolken von Sils Maria’ mit Juliette Binoche), wo er auf merkwürdige Weise wunderbar passte. Pachelbel schrieb das Werk vermutlich für die Hochzeit vom älteren Bruder Johann Sebastian Bachs im Jahr 1694. Seither google ich nach verschiedenen Versionen mit Orchester, Einzelinstrumenten und natürlich Klavier. Ich höre sie immer wieder und sie bringen mich zum Weinen. Es ist kein klagendes oder dramatisches Weinen, eher lösende Tränen. Ich befinde mich in einer Odyssee von Kopf- und Rückenschmerzen, habe Ärzte konsultiert und Analysen machen lassen. An diesem Tag finde ich die wunderschönste Klavierinterpretation des Kanons bei YouTube und sogar noch die zugehörigen Noten. 

 

Ich drucke sie aus. Lege alle anderen Noten auf meinem Klavier weg. Breite sie aus und lasse sie wirken. Ich habe einige Monate nicht mehr gespielt. Dieses Stück möchte ich anders üben. Ich möchte es gar nicht üben, sondern mit ihm sprechen, mit ihm spielen, mich in die Klänge hineinsinken lassen. 

 

Ja, und dann Bach. Uns verbindet eine lange Geschichte. Als Jugendliche war ich fasziniert von seinen Orgelwerken, besonders der ‘Toccata und Fuge in d-moll’ und der ‘Passacaglia und Fuge in c-moll’. Es sind machtvolle, große Werke, die man ganz hören muss, am besten mit Kopfhörern, liegend und atmend. In vielen Tag- und Nachtträumen habe ich mir vorgestellt wie ich diese Stücke auf einer großen Kirchenorgel spiele. Und dann lese ich bei Ortheil, dass er dies getan hat, während seiner Internatszeit in Süddeutschland, aber auch als junger Student in Rom. 

 

Ich lese auch von Ortheils Faszination über Robert Schumann. Ich kann sie verstehen und denke, dass ich mich noch einmal mehr mit Schumann beschäftigen werde. Zur Zeit ist er mir ein wenig zu kompliziert, ich mag es einfach und klar. Ich schaue mir eine Dokumentation über Schumanns Leben an, aber nur halb, da mir seine Getriebenheit gerade zu anstrengend ist. Bei Bach und Pachelbel spüre ich einen Ort innerer Stille, einen Ausdruck von Göttlichkeit, eine Erinnerung an Tiefe in mir selbst, die mich sehr berührt. Durch Ortheil lerne ich auch ein neues Stück kennen, die ‘Cavalleria Rusticana’ von Mascagni von 1890, für mich ein tragendes, weites Stück mit einigen verspielten italienischen Momenten. 

 

Nicht von Ortheil erwähnt, aber auch Favoriten von mir sind die ‘Serenade (Ständchen)' aus dem ‘Schwanengesang’ von Franz Schubert, geschrieben 1828, und von Richard Wagner die Ouvertüren des ‘Parsifal’  (1882) und des ‘Lohengrin’ (1850). Sie machen mich weit und groß, erzeugen ein Meistergefühl, sind wahre Medizin. Wunderschön tragend und entspannend finde ich das ‘Adagio in g-moll’ von Albinoni, ein “altes” Stück von vor 1750, das erst in den 1950ern auf Basis von Fragmenten herausgegeben wurde, und das ‘Air’ aus Bachs ‘Orchestersuite in D-Dur’, aus dem der Geiger Wilhelmj auf wunderschöne Weise ein G-Dur gemacht hat.

 

Beides ist gleichzeitig da. Das körperliche Unwohlsein, Schmerzen, Ängste, Engen und eine unglaubliche Weite und Ruhe tief in meinem Inneren. Gespräche werden möglich, die letztes Jahr nicht möglich waren. Ehrlichkeit und Authentizität. So bin ich jetzt gerade. Ich kann nicht mehr so tun, als sei alles in Ordnung. Weder auf der Arbeit noch in meinen Beziehungen zu Familie und Partner. Ich beginne offen zu sprechen, über das was mich bewegt, anstatt sie nur in mein Tagebuch zu schreiben. Ich trage mich hinaus. Ebenso auch durch diese Texte, die ich jetzt veröffentliche. Auf den Schwingen der Musik, der Worte, die mich beruhigen, mir einflüstern, dass im Grunde alles in Ordnung ist, auch wenn gerade keine Normalität herrscht, so wie ich sie bisher kannte. 

 

Ich habe mir mein Leben so gestaltet. Und ich stelle mir jetzt diese Fragen. Mehr ist es nicht. Dabei brechen alte Wunden auf, die ich viel zu lange habe gären lassen. Es ist jetzt Zeit, sie loszulassen, mich auch darin nicht mehr festzuhalten. Ich erkenne, wie schnell ich selbst ein Kranksein nutzen kann, um nicht in meine Selbstverantwortung zu gehen. Wie diese Stimme in meinem Kopf mir einredet, dass ich mich festhalten muss, andere Menschen brauche, die mir helfen und sagen was ich tun sollte und was nicht. Dabei bin niemand anderes als ich selbst der Schöpfer meines Lebens. 

 

Warum also bin ich jetzt hier? 

Um Bewusstsein zu leben. 

I am here for consciousness. 

 

Und was will ich wirklich? 

Lächeln und scheinen, mein Licht strahlen, die Welt genießen und tiefe Freude erleben, Magie an jedem Tag. 

Magie der kleinen Momente, Magie in Begegnungen mit mir selbst und anderen. 

Berührt zu werden von den Schönheiten dieses Lebens. 

 

Ich weiße, dass Energien von außen mich nur überlagern können, wenn ich es zulasse. Und ich lasse es oft zu. Ich weiß auch, dass es  Ablenkungen davon sind, dass sich in meinem Inneren gerade etwas völlig Neues gebiert. Es ist in Ordnung. All dies gilt es gerade anzunehmen.

 

Ich habe überlegt, warum mich der Stil Ortheils, also WIE er schreibt, zur Zeit so anspricht. Es ist ein Gefühl, ein Gefühl von Kostbarkeit, Bewusstheit im Inneren. Ich lese nicht schnell über die Zeilen hinweg, wie bei manch anderen Büchern, sondern koste jedes Wort aus. Lese Sätze mehrmals, erfühle sie. Ich nenne es Wertschätzung. Wertschätzung für mich selbst, für mein Sein, in diesem Moment, jetzt und hier in diesem Leben. Die Schönheit zu sehen, im Innen wie im Außen. 

 

Wertschätzung heißt für mich zum Beispiel:

  • Die Dinge dürfen für mich einfach sein.
  • Ich wähle, was für mich stimmig ist und lasse los, was nicht meins ist. 
  • Ich habe Zeit und genieße bewusst.  
  • Ich muss mich nicht erklären, bleibe entspannt bei mir. 
  • Weniger (tun) ist mehr (sein).
  • Es geht in diesem Leben um meine Beziehung zu mir. Ich nähre mich aus mir selbst. So kann die Beziehung zu anderen freier sein.
  • Ich höre auf zu kämpfen, erlaube in Liebe und Mitgefühl, was ist. 
  • Ich bleibe sanft und lasse den Drang los, alles kontrollieren zu wollen.
  • Es darf Spaß machen! Ich drücke mich aus, erschaffe, verändere, erlebe, erfahre aus meinem Bewusstsein heraus, aus der Passion zu leben. 

 

Alles erscheint fragil zur Zeit. Aber vielleicht war es das immer schon und ich habe es nicht sehen wollen, habe es mit mentaler Kontrolle verdeckt. 

 

Es fühlt sich an, als wären alte Barrieren in meinem Inneren jetzt aufgebrochen und ich stehe vor einem großen weiten Feld, dass ich so noch nie wahrgenommen habe. Alles ist möglich! Tatsächlich. Es macht Angst. Natürlich tut es das. Und ich lasse mir Zeit. Es gibt nichts zu überstürzen.

 

 

Und aus meinen körperlichen Beschwerden erschafft sich ein ganz sanftes, fließendes, anmutiges Yoga zu klassischer Musik. Es gibt darin nichts zu erreichen. Es ist ein Berühren meiner selbst. Eine liebevolle Kommunikation mit meinem Körper, meinem Geist, meiner Seele; zwischen all dem was ich bin.

 

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Kommentare: 4
  • #1

    Christiane5 (Montag, 12 Februar 2018 23:15)

    Beim Lesen und nachspüren zeigte sich ein Bild vor meinem inneren Auge..was auch gerade auf mich zutrifft.ein Eisberg der schmilzt..ganz sanft und kraftvoll klar geschieht es einem ganz eigenem Rhytmus ..meinem. Wieder wunderbar ..ehrlich und schön zu lesen und fühlen

  • #2

    Karola (Montag, 12 Februar 2018 23:32)

    DANKE, Daniela ❤️

  • #3

    Tania (Donnerstag, 15 Februar 2018 17:45)

    Danke fūr die wunderbaren Musikmomente. Diesmal habe ich dein Schreibendes-Sein ūber paar Tage genossen bis ich alles gelesen und angehōrt hatte. Ich habe entschieden wieder mehr classische Musik zu hōren und mich darin zu erfahren. Dein Schreiben hat mich berūhrt und getragen. Mir So einige Facetten gezeigt. Ein Freund hatte mir mal die Toccata auf der Orgel vorgespielt. In der Zeit ging es mir gar nicht gut. Es war schōn nochmal nachzuspūren. Nun habe ich Lust auf classische Konzerte bekommen. Ich werde mir Karten in der Phillharmonie besorgen. Das habe ich schon lange nicht mehr gemacht. Danke fūr dein Schreiben. Und ja das Eis schmilzt allmāhlich.

  • #4

    Nadine (Donnerstag, 22 Februar 2018 14:44)

    Sehr schön
    Beruhigend
    Sicher
    Auswühlend
    Genuss und noch viel mehr
    Ich mag deine Geschichten sehr ����