Natur

Ich sitze im Wald. 

Bin losgewandert, barfuß in Sandalen, kurze Hose, Wasser auf dem Rücken, wie zu einer großen Tour.

Aufwachen, aufbrechen und immer weitergehen. Einen Fuß vor den anderen setzen.

Erst der harte Beton unter meinen Füßen; schnelle Schritte, um aus dem Dorf herauszukommen und runter vom Asphalt. Bei der alten Mühle biege ich ein, steige eine verwachsene Steintreppe hinab, hüpfe über große Steine durch das Bachbett auf die große Wiese. Von fern höre ich die Autos noch; ich gehe weiter Richtung Wald. 

Dieser Wald ist irgendwie magisch, verschlungen und unaufgeräumt; ich mag ihn sehr. Ich betrete ihn vorsichtig, sage guten Morgen und entscheide mich spontan für rechts - es geht bergauf. Mein Körper wird warm, freut sich über die Bewegung am Morgen, der Kopf ist noch leer. Oben angekommen gehe ich nach links, aus dem Wald heraus, über einen Feldweg an Weinbergen vorbei Richtung Fluß. Es ist noch frisch, kühler Wind weht mir entgegen, macht mich wach. Ich ziehe meine Weste enger um die Schultern. In der Ferne sehe ich schon das Flußtal in der Morgensonne glitzern. Hier ist es ganz still. 

Ich komme an eine Art Klippe, von der aus es steil nach unten geht zum Fluß. Der Hang ist mit Weinbergen, Bäumen und Büschen bewachsen. Ich stehe ganz hoch oben, betrachte den Fluß, spüre meine Füße unter der Erde, fühle mich unendlich groß hier oben. Wie ein Adler könnte ich meine Schwingen ausbreiten und losfliegen. 

Irgendwann beginne ich den Abstieg durch die Weinberge über Steintreppen und Leitern bis zu einem Plateau, das Klettern macht mir Spaß. Ich lasse mich unter einem großen Baum nieder, atme und schaue in die Weite über das Tal. Wie ein großes Vogelnest hängt das Plateau über dem Fluß, der sich durch die wunderschöne Landschaft schlängelt. Postkartenidylle. Ziehende Wolken über mir, Wald- und Wiesenfelder in vielfältigen Grün-Nuancen links, der tiefblaue Fluß mit den Spielzeugeisenbahnschienen unten mir, rechts Weinberge, soweit ich sehen kann. 

Ich beschließe ein wenig zu bleiben, schaue mich um. Es ist ein guter Yogaplatz. Das Gras ist verdörrt und etwas stachelig an meinen nackten Beinen, aber das macht nichts, ich beginne mit meinen Übungen, dehne und strecke mich, spüre barfuß die Erde unter mir. Mit gegrätschten Beinen schaue ich unter mir hindurch auf das Panorama, das auf einmal auf dem Kopf steht. Interessante Perspektive. Ich mache die "Fünf Tibeter" und töne dazu, fühle die Kraft der Natur. Ein menschliches Wanderpaar kommt vorbei, aber das stört mich nicht. Ich fühle Atem und Sein, bin ganz in mir. Irgendwann sitze ich bequem auf der Erde mit dem Gesicht zur Sonne und genieße die Wärme und den leichten Wind. Alles ist still. Ich bin jetzt hier. Ich bade in der Sonne, von diesem Berg getragen, erfrischt durch den Wind. Ich könnte ewig so sitzen, habe kein Zeitgefühl; will auch keins. 

Irgendwann gehe ich weiter, den Berg hinab zum Fluß. Dann wende ich mich nach links. Wie ein großes Tor erhebt sich der Dschungelwald vor mir und ich trete ein. Höre Vögelzwitschern und Wasserplätschern; der Bachlauf, den ich vor einiger Zeit durchquert habe, fließt hier in den Fluß. Ich folge ihm nach oben durch den Dschungelwald. Seine Baumkronen sind so verschlungen, dass man den Himmel nicht sieht. Hier ist es grün, die Hitze macht dem Wald nichts aus. Er lebt einfach weiter, unbeeindruckt, ist immer da, so wie er ist. Ich gehe bewusst und langsam am Bachlauf entlang über verschlungene Pfade, durch Baumtore, über Stock und Stein. Zwischendurch bleibe ich stehen, fühle, höre. 

Irgendwann komme ich zu einer kleinen Lichtung, wo der blaue Himmel leicht durch die hohen Kronen schimmert. Hier, gleich am Bachlauf, stehen zwei große Holzbänke mit Tisch. Ich lasse mich nieder, fühle, wie ich im Wald bade, tue nichts, bin einfach. Sitze hier als Mensch und gleichzeitig ist da noch so viel mehr, wenn ich es fühlen will. Unendliche Einheit mit mir selbst, mit dem Wald, dem Bach und gleichzeitig die Einzigartigkeit meines ganzen Wesens. Bin in meinem eigenen Raum, hier, zeitlos, grenzenlos.

Irgendwann ziehe ich das Heft aus meinem Rucksack und beginne zu schreiben. Die Worte fließen auf das Papier, so wie das Wasser des Baches an mir vorbei. Ich fülle Seite um Seite mit dem, was gerade geschrieben werden will. 

Irgendwann ist es genug. Ich trinke einen Schluck Wasser und gehe weiter. Nach einiger Zeit komme ich an großen Brombeersträuchern vorbei. Wald-Brombeeren! Ich betrachte die Fülle der Früchte, die vor mir liegt. Dann leere ich meine Wasserflasche und ernte Brombeeren hinein, bis sie fast ganz voll ist. Ich danke dem Wald für dieses Geschenk und gehe weiter. Ich bin schon oft hier vorbeigekommen, aber es ist mir nie aufgefallen, dass es Beerensträucher sind. 

Irgendwann komme ich wieder an der alten Mühle vorbei, aber möchte noch weiter gehen. Ich wende mich nach rechts, in einen anderen Wald hinein, gehe querfeldein. Mit jedem Schritt kann ich die Verbindung zum Waldboden fühlen. Immer noch eine große Stille, die mich umgibt. Wie lange bin ich wohl schon unterwegs? Es ist unwichtig. Ich fühle mich frisch und lebendig. 

Irgendwann komme ich an einem kleinen Berg Geschirr vorbei.

Ich gehe näher ran - tatsächlich, da hat jemand altes Geschirr im Wald abgeladen. Ich schaue mich um, als könnte mich jemand beobachten. Wie kommt man auf die Idee, Geschirr in den Wald zu fahren? Sonst ist kein Abfall dabei. Einige Teller sind zerbrochen, es sind alte, verblichene Teller mit Blumenranken verziert. Ich nehme ein großes Suppentellerstück in die Hand, auf der Rückseite steht ein französischer Firmenname und "France". Dann entdecke ich eine elegante Kaffeekanne. Sie ist hellblau mit Goldrand und hat einen schlanken Hals, der abgebrochen in zwei Teilen daneben liegt. Ich drehe und wende die Kanne in meinen Händen, 1960er-Jahre-Design würde ich schätzen. Schade, dass sie kaputt ist. Ich versuche den Hals wieder zusammenzusetzen und halte ihn an die Kanne. Könnte man wieder kleben. Irgendetwas gefällt mir an dieser Kanne. Ich hocke dort mitten im Wald und überlege sie mitzunehmen. Ich könnte sie kleben. Was will ich mit einer alten Kanne?? Kurzentschlossen stecke ich sie samt der Halsteile in meinen Rucksack und gehe weiter.

Nach einigen Schritten halte ich inne. Irgendwie fühlt es sich doch nicht richtig an. An diesem Geschirr hängt eine Geschichte, will ich diese teilweise mit zu mir nach Hause nehmen? Ich stehe im Wald und komme mir irgendwie blöd vor. Dann gehe ich zurück und lege die Kanne wieder zu den Tellern. Kurz kommt mir der Einfall, dass mich in diesem Moment jemand sehen könnte, und so denken, dass ich es bin, der Geschirr im Wald entsorgt. Ich muss lächeln. Betrachte die Kanne noch einmal, dann drehe ich mich um und gehe weiter. 

So langsam steuere ich auf zu Hause zu.

Die Kanne spukt mir noch etwas durch den Kopf.

Was hat sie wohl alles schon erlebt?

Will sie mir ihre Geschichte erzählen? 

Ich kann sie ja wieder besuchen, wenn ich Lust habe.

Dort im Wald wird sicher niemand sie wegnehmen. 

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Andrea Schwarzenbarth (Montag, 13 August 2018 21:55)

    Schöne Erzählung!