Abspringen

Das Hineinspringen in die Geschichte ist das einzig Mögliche. 

 

Jetzt. 

 

Absprung. 

 

Eintauchen in die Tiefe. 

 

Fanny hob den Kopf und blickte durch die schmutzige Scheibe hinaus in den Regen. Es roch nach nasser Kleidung und Haferkeksen, die die kleine Frau vor ihr mechanisch kaute. Der Bus ruckelte gelegentlich und die stehenden Passanten wogen sich wie alte Pappeln im Wind. Sie umklammerte ihre Mappe auf dem Schoß, mit engen Schultern, eingepfercht, die Knie zusammengepresst, um ihren breiten Sitznachbarn nicht zu nahe zu kommen. Fanny hasste Busfahren im Regen. Diese feuchten Menschen mit ihren Ausdünstungen, die Enge, die ausdruckslosen Gesichter. Draußen streifte die Stadt vorbei. Noch drei Haltestellen.

 

Es war ihr unmöglich hier zu schreiben. Sie konnte ja kaum atmen. Klingeltöne schossen durch die Luft; der Ziehharmonikabus schwankte in den Kurven wie ein altersschwaches Ausflugsschiff. Noch zwei Haltestellen. Was würde sie heute schreiben? Fanny hatte immer Angst, dass ihr nichts einfiel, aber dann war es doch ganz leicht. Eine Tür öffnete sich zu einem Raum, den sie noch nicht kannte und sie trat ein. Noch eine Haltestelle, dann raus in den Regen. Fanny hatte keinen Schirm dabei und fand die kalte Nässe draußen noch schlimmer als die feuchte Wärme im Bus. Tropenbus. Alle auf Expedition. Fanny musste lächeln. Und wenn sie einfach sitzen bliebe? Ganz leicht stockte ihr Atem und die Bilder des verplanten Tages zogen an ihr vorbei. Jetzt in die Uni. Danach ins Café zum Arbeiten. Dann ins Studio zum Training. Dann den Hund holen, heute war sie dran. Dann noch schnell zum Supermarkt. Alles nach Hause schleppen - Hund, Nudeln mit Sosse. Durch den Regen. Dann Hausarbeit für die Uni. Versuchen sich beim Lärm in der WG trotzdem zu konzentrieren. Schlafengehen. Morgen wieder aufstehen, zum Bus. 

 

Und wenn sie einfach sitzen bliebe? 

Fanny wollte nicht hinaus in den Regen, in den verplanten Tag. 

Weiterfahren. An allem vorbeifahren, was da auf sie wartete. 

Wohin? 

Egal. 

 

Ihr Nachbar streckte sich, zog die Kapuze über, stieg also hier aus. An ihrer Haltestelle. Jetzt war es klar, dass sie sitzen bleiben würde. Auf unlogische Weise war es ganz klar. Der Bus kam zum Stehen, der Mann erhob sich, Fanny schielte hinaus. Ihre Haltestelle. Prasselnder Regen. Schnell wegsehen. Das ziehende Gefühl im Bauch durchatmen, die Schultern strecken. Jetzt hatte sie Platz. Hier stiegen viele aus, der Bus leerte sich. Fanny war noch nie weitergefahren. Ein prickelndes Gefühl von Lebendigkeit verteilte sich langsam in ihrem Körper, kroch hoch in den Kopf. Wachheit wie nach einem doppelten Espresso. Die Tür schloss sich. Jetzt war es zu spät. Fannys Herz gluckste. Sie hatte die alte Welt verpasst. Aufspringen, hektisch auf den Stopknopf drücken, um doch noch rauszukommen, dem verplanten Tag eine Chance zu geben? Der Bus fuhr an, zu spät. Fanny atmete auf. Jetzt war es entschieden. Die Frau vor ihr knüllte die Keksschachtel zusammen und leckte sich die letzten Krümel von den Lippen. Der vorgedachte Raum hatte sich verschlossen. Fanny spürte eine leichte Unsicherheit, so als stünde sie in einem großen Flur mit vielen Türen und war sich nicht sicher, ob sich eine davon öffnen würde. Ein plötzliches Gefühl von Leere, Verwirrung und Unwohlsein, so als dürfte sie nicht hier sein. Fanny sah sich um, streifte ein paar Blicke. Wo fuhren diese Menschen hin? Warum blickten sie sie so verstohlen an? Konnten sie wissen, dass Fanny gerade an ihrem alten Leben vorbeigefahren war? Dass sie noch nicht wusste, wohin es jetzt genau ging? Sie hatte fast den Eindruck, man schaute sie etwas mitleidig an. Draußen hörte der Regen auf. Was für eine Schnapsidee. Da hätte sie auch aussteigen können. Würde sich ihr Leben tatsächlich durch dieser einfachen Sache umlenken lassen?

 

Sie würde sitzenbleiben. Und wenn sie den ganzen Tag im Bus durch die Stadt fahren würde. Sie würde so lange sitzen bleiben bis ein klarer Impuls von innen kam, der ihr sagte, was als nächstes zu tun war. Es war ganz einfach. Sie musste nur warten, bis der nächste Impuls kam. Ganz einfach. Sie hatte ja jetzt Zeit. Und Platz. Sie könnte einige Dinge notieren. Was sie so sah. Den besonderen Moment in Worte fassen. Fanny öffnete ihre Mappe, nahm den Schreibblock und einen Kugelschreiber heraus. Sie strich über das weiße Blatt. Was, wenn nichts passieren würde? Wenn keine Tür sich öffnen würde? Würde sie ewig im großen Flur stehenbleiben, in Endlosschleife im Bus sitzen oder doch ihr altes Leben wiederfinden? Schaurig-süße Leere. Alles möglich, nichts wahrscheinlich. Gleich begann die Vorlesung und sie fuhr im Bus. Aus der Dumpfheit wurden Worte, die langsam aufs Blatt tropften. Sinnlose Worte, Sätze ohne Ziel.

 

Fanny spürte, dass Augen sie betrachten. Eine dunkelhäutige Frau mit Kinderwagen und Kopftuch. Fanny blickte sie an, die Frau hielt ihrem Blick stand, schaute einfach, ohne Regung. An dem Kinderwagen hingen zwei Kinder, am Griff Supermarkttüten. Fanny liess ihren Blick über die Kinder gleiten, die Tüten aus dem Discounter und die schweren Schuhe der Frau unter ihrem dunklen Kleid. Hoch zurück zu den Augen, die immer noch schauten. Tiefe und Weite. Eine ganze Welt. Der Bus ruckelte, eines der Kinder verlor das Gleichgewicht und krähte auf. Die Frau packte es am Kragen und zischte ihm fremdländische Worte zu. Fanny senkte schnell die Augen zurück auf ihr Blatt. Bilder von Wüstenlandschaften blitzten in ihr auf, stechende, dunkle Augen, die sie anstarrten. Flirrende Hitze, glühender Wind. Als Fanny wieder aufblickte, war die Frau weg. Die Tür wieder zu.

 

Was würde das werden? Konnte nicht irgendetwas geschehen, das den Sinn erklärte? Etwas, das das Unwohlsein in ein sicheres Zugehörigkeitsgefühl auflöste? Zugehörigkeit zu einem Grund, einem Plan, einem Verstehen? Fanny kam sich wie in einer Warteschleife am Telefon vor, ohne zu wissen, wen sie angerufen hatte und warum. Aber auflegen konnte sie auch nicht. Ausharren im Nichts. In der Intensität dieses Augenblicks, der aus Raum und Zeit gefallen zu sein schien, aus Sinn und Zweck. Fanny blickte sich wieder um. Der Bus füllte und leerte sich. Alle wussten, wo sie hinwollten, wo sie hingehörten. Wie durch eine geheime Steuerung bewegten sich die Menschen in ihren Leben, flossen mit dem Strom durch das Heute und dann durch das Morgen. Hausfrauen, alte Männer, schulschwänzende Jugendliche. Selbst die wussten, wo sie stattdessen hinwollten. 

 

So langsam begann Fanny sich wohlfühlen. Die Leere wurde größer. Da würde kein Grund mehr kommen, das spürte sie nun. Wie durch eine unsichtbare Wand war sie von diesen Menschen getrennt, obwohl sie sie fast berühren konnte. Sie war jetzt anders. Und auch ihre Zeit ging anders. Der Bus würde auf ewig so weiterfahren und es machte ihr nichts aus. Auf eine gewisse Weise war es auch nicht anders, als durch das alte Leben zu gehen, Tag für Tag. Es würden sich keine Türen öffnen, die dem ganzen einen Sinn gaben. Es ging einfach so weiter, nur dass sie das jetzt verstanden hatte. Menschen, Geschichten, Landschaften streiften vorbei. Worte flossen aufs Blatt, Regen die Scheibe hinab. Fanny entspannte sich. Sie atmete durch und liess alles einfach so. Liess sich leben. Einfach so. Sinnlos fließend wie eine Rolltreppe, ein endloser Strom.  Friedlich. Fanny liess alles los. Den ganzen Druck des Sinnhaltigen. Sie fuhr einfach weiter. Durch Zeit und Raum.

 

Begann langsam von innen zu strahlen. 

 

 

Ihr altes, neues, unendliches Licht. 

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Angelika Depta (Sonntag, 02 Dezember 2018 08:36)

    Ich bin der Aufforderung nachgekommen und bin der einzigen Möglichkeit gefolgt und in die Geschichte hineingesprungen. Gefunden habe ich eine schöne Geschichte, eine Prota, die sich traut einen ihr unbekannten Weg zu betreten. Wunderbar sind ihre Gefühle geschildert und der Erkenntnis, das ein neuer Weg auch in eine Abfolge von Gleichmäßigkeit und Wiederholungen mündet und so nicht viel anders ist, als das was sie bereits hat.

  • #2

    Monika (Dienstag, 04 Dezember 2018 18:32)

    Toll geschrieben. Auch in einfach reingesprungen in die Geschichte, die mich dann auch nicht mehr losgelassen hat. Sehr schön!