Die Freiheit des Dichters

Gib den Tag nicht auf 

Leuchte in der Nacht

Das Innere verteilt sich

Frei

 

Er hebt den Kopf von seinem Notizblock, lässt den Stift sinken. Durch das kleine Sprossenfenster seiner winzigen Dachkammer scheint die Nachmittagssonne herein. Letzte Nacht hat es geschneit und die Äste der kahlen Bäume blitzen weiß. Er sitzt an dem kleinen, ovalen Tisch aus dunklem Holz. Den Heizkörper unter der Fensterbank hat er aufgedreht, trotzdem friert er. Lust auf eine Zigarette. Das kommt in letzter Zeit häufiger vor, dabei raucht er gar nicht. Er blickt auf sein Notizbuch, auf die Verse, die er gerade geschrieben hat. Es fließt heute nicht richtig. So als müsse er die Worte zäh aus sich herausziehen. Da war etwas Neues in ihm heute Morgen, als er erwachte, aber er kann es noch nicht greifen. Eine Zigarette. Warum nicht? Mal etwas Ungewöhnliches machen.

 

Kurzentschlossen steht er auf, steckt Notizbuch und Stift ein, kramt nach ein paar Münzen in seiner Hosentasche und geht nach unten. Seine Mutter sitzt in der Küche und liest Zeitung. Er zieht seine Stiefel an und streift die Winterjacke über. 

 

„Wo willst Du hin?“

„Oh, Mama. Einfach mal raus. Zigaretten holen.“

„Sehr witzig. Nimm Dir einen Schlüssel mit. Du weißt, ich fahre gleich los nach Hamburg zu der Literaturveranstaltung und werde erst morgen zurück sein. Dein Essen steht im Backofen, Du musst es später nur aufwärmen.“

„Du musst mir nichts vorkochen, Mama. Ich bin doch keine fünfzehn mehr.“

„Ich mache das gern, mein Junge.“

 

Er antwortet nicht, steckt den Schlüssel ein und schlägt die Haustür hinter sich zu. Bis zur Tankstelle sind es nur zehn Minuten zu Fuß, die kalte Luft strömt in seine Lungen, macht ihn schlagartig wach. Soll er wirklich Zigaretten kaufen? An der Tankstelle ist nichts los. Er tut so, als betrachte er interessiert die Regale, deren Inhalt er auswendig kennt. Hier verändert sich nichts. Welche Marke soll er kaufen? Er könnte ein wenig bleiben und die Menschen betrachten. Ein wenig Inspiration von außen. 

„Guten Tag, eine Schachtel Marlboro bitte und einen Pfefferminztee zum Hiertrinken.“

 

Er steckt die Schachtel in seine Jackentasche und lässt sich mit dem dampfenden Glas an einem blassgrünen Bistrotisch nieder. Eine Frau mit dunklen Haaren tankt einen weißen Audi mit luxemburgischem Kennzeichen. Wie interessant. Vor kurzem hat er an einem Literaturwettbewerb in dem kleinen Land, von dem er nichts weiß, teilgenommen. Die Frau kommt herein, blickt ihn direkt an und geht dann zur Kasse. Er holt sein Notizbuch raus, schaut sich die letzten Verse an. Sie leben nicht. Er nimmt einen tiefen Atemzug, versucht hineinzugleiten in die Worte, die auf dem Blatt stehen, und in die, die als nächstes kommen möchten. Er beginnt zu schreiben, kann spüren, wie die Frau mit den dunklen Haaren sich an den Nebentisch setzt. Die Zigaretten in seiner Tasche fühlen sich verwegen an. Er könnte einen Ausflug machen. Ja, vielleicht wäre heute ein guter Tag für ein Abenteuer. Das hat er lange nicht gemacht und es könnte diesen inneren Wust in einer geraden Linie nach außen bringen. Der Tankwart räumt seine leere Teetasse ab. „Bist Du wieder am Schreiben?“

 

Er nickt und blickt von seinem Notizblock hoch. Die Frau am Nebentisch hält ihre Kaffeetasse mit beiden Händen, um sie zu wärmen, und lächelt ihn direkt an. Sie zeigt auf seinen Block. „Ich schreibe auch.“ 

 

Er betrachtet sie, ohne zu antworten. Ja, ein Ausflug, warum nicht. Im Magen spürt er ein leichtes Ziehen, die Aufregung vor dem Beginn von etwas Unbekanntem. 

„Würden Sie mich ein Stück in ihrem Auto mitnehmen?“

Die Frau betrachtet ihn interessiert. „Wo wollen Sie denn hin?“

 

Komisch, normalerweise reagieren Menschen abweisend oder unsicher, wenn er diese Frage stellt, aber diese Frau ist anders. 

Er versucht zu lächeln. „Ach, das ist ganz egal. Einfach in die Richtung, in die Sie fahren. 50 Kilometer oder so. Das reicht schon.“

„Sie wissen nicht, wohin Sie wollen?“

„Nun, irgendwie ist es egal für meine Zwecke.“

Die Frau lacht auf. „Was sind Sie für ein komischer Typ?“

„Ich bin ein Dichter, der einen Ausflug machen möchte. Nichts weiter.“ 

„Ein Dichter, soso. Das hört sich ja interessant an.“ Ihr Blick wird ernst und sie trinkt ihren Kaffee aus. „Ja, dann lassen Sie uns fahren.“ 

 

Im Auto startet sie den Motor, gibt im Navigationssystem ‚Luxemburg‘ ein.  

„Wohnen Sie dort?“

„Ja.“

„Und wo kommen Sie gerade her?“

Die Frau lenkt den Wagen auf die Straße und gibt Gas.

„Ich war ein paar Tage hier in Worpswede. Urlaub. Und berufliches Interesse, ich bin Kulturjournalistin.“

Er zuckt zusammen. Eine Journalistin. Besser nichts mehr sagen. 

„Und was machen Sie so, außer zu dichten?“

Er zögert. „Das mit dem Dichter war nur ein Spaß. Ich schreibe manchmal ein paar Zeilen so für mich. Mehr nicht.“

„Wie schön, ich schreibe auch, beruflich natürlich, aber auch kleine Geschichten, so aus Spaß. Und ich lese sehr gerne Gedichte. Und was ist das für eine Idee mit dem Ausflug, egal wohin?“

„Keine große Sache. Ich habe das schon einige Male gemacht. Lasse mich überraschen, wo es hingeht, steige irgendwo aus und fahre wieder zurück. Einfach nur kleine, spontane Ausflüge. Sie fahren ja Richtung Süden, dann lassen Sie mich einfach irgendwo in Bremen raus.“

 

Sie antwortet nicht und schaltet das Radio ein. Seine Anspannung ist größer als sonst. Er kann es nicht erklären, normalerweise spürt er bei seinen unbekannten Ausflügen schon nach wenigen Kilometern ein Gefühl von Freiheit, aber jetzt stellt es sich nicht ein. Sie schweigen, während draußen die Landschaft vorbeifließt. Er wird ein wenig an der Weser spazieren und wieder mit dem Zug zurückfahren. Irgendetwas ist anders heute. Sie passieren die Stadtgrenze, überfahren die Weser.

„Lassen Sie mich hier einfach irgendwo raus.“

Die Frau reagiert nicht, fährt weiter. 

„Hören Sie?“

 

Sie steuert am Flughafen vorbei, Richtung A1. Gleich fahren sie auf die Autobahn Richtung Münster auf. 

Er wird nervös. „Hören Sie, was soll das? Lassen Sie mich hier raus, ich sagte, ich möchte in Bremen aussteigen.“

Sie blickt ihn kurz von der Seite an. „Beruhige Dich. Es ist alles in Ordnung.“

„Was meinen Sie damit, es ist alles in Ordnung?“

Sie zögert, blickt ihn wieder kurz an. Dann fahren sie auf die Autobahn auf. „Hör zu, ich kenne Dich. Ich habe Dich beobachtet die letzten Tage.“

Sein Magen zieht sich zusammen. Ist das eine Entführung? Warum? Wer sollte ihn entführen wollen? 

„Ich möchte jetzt sofort aussteigen.“

„Das ist hier ungünstig, wir sind auf der Autobahn, Malte Jenssen.“

Er erstarrt. Woher kennt sie seinen Namen? 

„Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir?“

 

Die Frau nimmt einen tiefen Atemzug. 

„Die Welt verrauscht im weiten Licht / des neuen Lebens / des neuen Wesens / das ich bin.“

Er traut seinen Ohren nicht. Das ist völlig unmöglich.

„Kennst Du dieses Gedicht, Malte Jenssen?“

„Ich möchte sofort aussteigen. Am nächsten Rastplatz lassen Sie mich raus.“

„Nein, das werde ich nicht tun, Malte. Ich bringe Dich nach Luxemburg. Zur Preisverleihung.“

 

Seine Gedanken fahren Achterbahn. Die Preisverleihung! Er weiß das genaue Datum nicht mehr, denn er hat den Brief im Kamin verbrannt, nachdem er den Organisatoren per eMail eine Absage erteilt hat. Er würde nicht nach Luxemburg fahren, um den Lyrikpreis entgegen zu nehmen, natürlich nicht. Er atmet tief. Natürlich nicht. Es war verlockend gewesen, das Gedicht unter seinem Namen einzureichen. Nach all den Jahren des Schreibens nur einmal etwas für sich zu tun. 

 

„Hören Sie, das geht nicht. Ich habe den Preis abgelehnt. Ich möchte nicht nach Luxemburg, und ich werde diesen Preis nicht entgegennehmen. Lassen Sie mich aussteigen und wir vergessen das Ganze.“ Er versucht möglichst locker zu klingen. 

 

„Malte, Dein Gedicht ist genial. Das ist etwas ganz Besonderes, etwas ganz Neues. Du kannst das der Welt nicht vorenthalten. Ich habe von Deiner Absage gehört. Wir waren alle schockiert, so gespannt auf den Menschen hinter diesem außergewöhnlichen Gedicht. Ich habe recherchiert, Dein Name ist völlig unbekannt, im Internet gibt es nichts über Dich. Du bist nicht einmal bei Facebook. Was bist Du für einer? Kommst Du von einem anderen Stern? Und wie schaffst Du es diese einzigartigen Zeilen zu schreiben, und wieso kennt Dich niemand?“

 

„Woher kennen Sie mich?“

Sie nimmt einen tiefen Atemzug und lächelt. „Nun, Du hast meine Neugier geweckt. Ein geniales Gedicht von einem unbekannten Poeten taucht bei einem renommierten Literaturpreis in Luxemburg auf, gewinnt den ersten Preis, der Poet lehnt den Preis ab und bittet von weiteren Kontakten abzusehen. Was steckt dahinter? Wer ist dieser Mann? Oder ist es ein Pseudonym?“

 

Er antwortet nicht. Es war kein Problem gewesen, das Antwortschreiben der Veranstalter abzufangen. Mutter pflegte morgens einen ausgiebigen Spaziergang zu machen und dann in eines der Worpsweder Cafés einzukehren. Er war immer alleine zu Hause, wenn die Post kam.

 

„Ich habe recherchiert. Habe Dein Gedicht analysiert, es verglichen mit dem, was ich kenne und ich kenne die zeitgenössische deutsche Lyrik ganz gut. Zuerst habe ich nichts gefunden. Dieses Gedicht ist völlig neu, völlig anders als alles Dagewesene. Und dann fand ich doch eine Spur.“

 

Sie hält inne, sammelt sich und beginnt vorsichtig: 

„Des Lebens Kind / frei durch die Lande / der Gedanken wandernd“

Sie schaut ihn kurz von der Seite an. „Kennst Du diesen Satz?“ Sie blickt wieder auf die Fahrbahn. „Natürlich kennst Du ihn, er ist in Deinem Gedicht. Und ich habe ihn noch in einem weiteren Gedicht gefunden. Einem Gedicht von Dorte Lürsen, herausgegeben vor zwölf Jahren.“ Sie zeigt nach hinten. „Schau auf den Rücksitz, Malte. Die gesammelten Werke von Dorte Lürsen.“

 

Er dreht sich um. Ein Stapel vieler kleiner Lyrikbände. Er schluckt. Es sollte ein Scherz sein. Eine kleine Verhöhnung. Nur zu seinem eigenen Spaß. Er hätte nie gedacht, dass es jemandem gelingen würde, die Verbindung zu sehen. 

 

„Wieso verwendest Du einen Satz aus den Gedichten Deiner Mutter in Deinem eigenen Gedicht, wo der Rest so gut ist, Malte? Ich habe herausgefunden, dass Dorte Lürsen in Worpswede wohnt und bin hierhergekommen, weil ich das Gefühl hatte, es muss eine Verbindung zwischen Euch beiden geben. Ich habe Euer Haus beobachtet und recht schnell verstanden, dass Du es sein musst; Du bist der jugendliche Sohn, der bei der großen Dichterin wohnt. Das Gedicht ist genial, aber warum hast Du aus Ihren Gedichten abgeschrieben?“

 

Seine Hände zittern. Er muss hier raus. „Ich bin 33 Jahre alt. Ich bin kein Jugendlicher. Und Sie halten am nächsten Rastplatz an und lassen mich gehen!“ Er kann sich kaum beherrschen. Wo kommt plötzlich diese unbändige Wut her? 

 

„Weiß Deine Mutter, dass Du eine Zeile aus ihrem Gedicht genommen hast?“

Er atmet heftig, die Wände des Autos kommen bedrohlich näher. Er muss hier raus. „Ich sagte, Sie sollen mich gehen lassen! Was glauben Sie, wer Sie sind?“ Beherzt greift er ins Lenkrad und reißt es mit einem Ruck herum, die Frau schreit auf. „Lass sofort los, bist Du wahnsinnig?“ 

Mit unerwarteter Kraft hält er das Lenkrad mit beiden Händen, der Wagen schlingert und steuert dann nach rechts auf den Fahrbahnrand zu. 

„Halten Sie an, habe ich gesagt!“ 

 

Die Frau macht eine Vollbremsung und kommt kurz vor der Leitplanke auf dem Standstreifen zum Stehen. Zum Glück ist die Autobahn an diesem Freitagmorgen leer. Sie schaltet den Motor ab, schließt die Augen und atmet tief. Das hätte richtig schief gehen können. So ein Idiot.

 

Er steigt aus. Aus den Augenwinkeln sieht sie, wie er sich eine Zigarette ansteckt und den Rauch tief einatmet. Sie steigt aus, knallt die Tür und läuft zur Fahrerseite. „Du bist ja völlig wahnsinnig!“ Ihre Augen sind weit aufgerissen und sie stößt ihn mit beiden Händen vor die Brust. Er bläst ihr den Rauch ins Gesicht und lächelt. „Sie haben mich entführt. Ich kenne hier nur eine Wahnsinnige.“ 

 

Die Zigarette scheint ihn zu beruhigen. Mit einem großen Schritt steigt er über die Leitplanke in den gefrorenen Grünstreifen und lässt sich im Schneidersitz auf dem kalten Boden nieder, so als wäre es das normalste, was man auf einer Autobahn im Januar tut. 

 

„Kann ich auch eine haben?“ Die Frau zieht ihren Mantel enger und setzt sich neben ihn. Er gibt ihr eine Zigarette und Feuer. Nach dem ersten Zug fließt leichter Schwindel vom Kopf zu den Füßen und zurück.

„Ich habe die Gedichte geschrieben.“

„Welche meinst Du?“

„Alle.“

Die Frau starrt ihn an. „Alle Gedichte von Dörte Lürsen?“ 

„Ja.“

„Du machst Witze.“

„Seh ich so aus?“ Er schaut sie an und grinst. „Sie ist meine Mutter. Margarete Jenssen. Und ich schreibe Gedichte, die sie unter dem Namen Dörte Lürsen veröffentlicht.“

„Das ist nicht Dein Ernst.“ Die Frau schaut ihn ungläubig an. 

Er zieht an seiner Zigarette. 

„Aber warum? All die Jahre? Wie ist das möglich?“

„Es ist halt so bei uns, und ich möchte nicht darüber sprechen. Und bei dem luxemburgischen Wettbewerb habe ich zum ersten Mal etwas selbst eingereicht. Ganz einfach. Ich möchte keinen Preis. Es war nur ein Spaß.“

 

Die Frau schweigt, raucht. Was für eine Story. Eine erfolgreiche Lyrikerin lässt sich die Gedichte von ihrem Sohn schreiben. Sie hatte gewusst, dass mehr dahinterstecken musste. Für so etwas hatte sie einen Riecher. 

„Wenn das wirklich stimmt…aber…hast Du nie Deinen eigenen Namen auf den Lyrikbänden sehen wollen? Selbst Lesungen halten, über deine Lyrik sprechen wollen?“

„Das bedeutet mir nichts. Ich habe immer schon Gedichte geschrieben. Ich schreibe sie für mich. Ganz einfach. Ich brauche diesen ganzen Rummel nicht. Es ist ein Spaß, mehr nicht. Und von irgendetwas mussten wir ja leben.“

„Aber wenn jetzt alles rauskommt…die große Dörte Lürsen ist erledigt!“ 

„Warum sollte es rauskommen?“ Er schaut sie durchdringend an. 

 

Die Frau drückt ihre Zigarette aus und blickt ihm in die Augen. „Ich glaube es wird Zeit, dass Du Dir eine eigene Identität schaffst, Malte. Du fährst mit mir nach Luxemburg zur Preisverleihung und nimmst Deinen ersten Preis als der Lyriker Malte Jenssen entgegen. Es ist Zeit, dass Du erwachsen wirst.“

 

„Identität?“ Er lacht auf. „Ich habe eine Identität. Ich bin sogar viel mehr als eine menschliche Identität. Und davon abgesehen, geht es Sie überhaupt nichts an, wie ich mein Leben lebe.“ 

Die Frau überlegt. Etwas in ihr drängt danach, diese Ungerechtigkeit aufzuklären. Was denkt sich diese Mutter dabei nur? Wie egoistisch kann man sein, so etwas zu tun? 

„Wenn Du nicht mitkommst, werde ich Deine Geschichte schreiben. Ich werde diesen Skandal aufdecken, dass eine Mutter über Jahre hinweg ihren Sohn so missbraucht hat. Seine Kunst als ihre verkauft hat. Das darf nicht ungesagt bleiben.“

 

Er steht abrupt auf. „Sehen Sie, genau deshalb möchte ich mit den Medien nichts zu tun haben. Mit Schnüfflerinnen, die den ganzen Dreck, den jeder in sich trägt, an die Öffentlichkeit zerren, und die sich daran ergötzen. Das ist ekelhaft. Überlegen Sie sich lieber mal, warum Sie das tun. Haben Sie kein eigenes Leben, mit dem Sie sich beschäftigen können?“ Er schaut sie wütend an, sie schweigt. Hat sie kein eigenes Leben? Nun, tatsächlich gab es Zeiten, in denen es damit schon besser bestellt war. 

„Wissen Sie was? Machen Sie, was Sie wollen. Machen Sie, was Sie glauben, dass Sie glücklich macht.“ 

Er dreht sich um und geht. Geht einfach den Abhang hinab. 

 

„Malte, bleiben Sie hier! Wo wollen Sie hin?“ Sie schreit ihm hinterher, aber er blickt nicht zurück. Geht mit gleichmäßigen, federnden Schritten auf ein großes Feld zu, zurück Richtung Bremen. Was hat er gesagt? ‚Machen Sie was Sie glauben, dass Sie glücklich macht?‘ Was hatte Glücklichsein damit zu tun? 

„So eine Scheiße.“ Sie erhebt sich, halberfroren, klettert zurück ins Auto, startet den Motor und stellt die Heizung auf die höchste Stufe. Was soll sie jetzt tun? Zu Fuß wird sie ihn nicht einholen. Und er wird sich nicht bekehren lassen. Und sie hat ihre Story. Aber wie wird sie es beweisen, wenn Malte und seine Mutter es abstreiten? Sie muss sich die ganze Geschichte durch den Kopf gehen lassen, ruhig überlegen. Erstmal nach Hause fahren. Morgen findet die Preisverleihung statt und sie hat noch Interviews mit den Zweit- und Drittplatzierten des Wettbewerbs zu führen. Sie lenkt den Wagen auf die Autobahn, schaltet das Radio ein und gibt Gas. 

 

In der Nacht schläft sie nicht gut, seine Worte gehen ihr nicht aus dem Kopf. Es hat sich fast so angehört, als sei er zufrieden mit seiner Situation. Kann das wirklich sein? Kann man wirklich zufrieden sein, so zu leben? Ist sie selbst zufrieden mit ihrem Leben? Sie wälzt sich hin und her, Bilder aus ihrer Vergangenheit steigen auf, an die sie lange nicht gedacht hat, hinterlassen ein Gefühl von Verwirrung und Erschöpfung. 

 

Am Samstag um 18 Uhr ist großer Bahnhof vor der Philharmonie in Luxemburg. Die Preisverleihung ist einer der Höhepunkte des luxemburgischen Kulturjahres. Sie hat den ganzen Tag telefoniert, Leute getroffen, Interviews geführt. Nein, sie hat den Erstplatzierten leider nicht gefunden. Ja, man würde einfach sagen, dass der Lyriker die Öffentlichkeit meidet und deshalb den Preis nicht selbst entgegennimmt. Ja, natürlich wüsste man, wer er sei, aber man würde Rücksicht nehmen auf die Wünsche des Künstlers.

 

Alles läuft wie geplant, der Saal ist bis auf den letzten Platz besetzt. Der Kulturminister eröffnet den Abend, sie sitzt in der ersten Reihe, neben dem Bürgermeister. Ein kleines Streichquartett der Philharmoniker spielt, dann steht der Bürgermeister auf, geht auf die Bühne, vergibt die Preise in der Kategorie französischsprachiger Lyrik. Sie schaut sich um. Alle Vertreter der luxemburgischen und angrenzenden deutschen, französischen und belgischen Presse sind gekommen. Aber sie ist mit den Gedanken woanders. Sie denkt an Malte, wie er vor ihr steht, auf der Autobahn, ihr den Rauch ins Gesicht bläst, sie spöttisch anschaut, sich umdreht und den Hang hinabgeht. Sie muss unbedingt noch einmal nach Worpswede. Gleich nächste Woche. Sie muss ihn dazu bringen, mit ihr zu sprechen. Sie kann die Story nicht einfach so veröffentlichen. Nicht ohne zu verstehen, wie es dazu gekommen ist, wie es angefangen hat, wie Mutter und Sohn zusammenleben und -arbeiten. Sie will wissen, warum. 

 

„Ist hier noch frei?“ 

Sie blickt hoch und erstarrt. Er setzt sich neben sie, auf den Platz des Bürgermeisters. 

„Malte! Wie kommst Du hierher?“

 

Er grinst. „Ich mache einen Ausflug.“

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Annette (Freitag, 08 Februar 2019 14:57)

    Besser als 'The wife' ☺️