Frische im Kopf

Samstag, 10 Uhr, ich sitze im Zug.

Grüne Wiesen und norddeutsche Backsteinhäuser fliegen an mir vorbei. Ich bin auf der Rückreise von der Insel Sylt, wo ich eine Woche zum Vitalfasten bei Fasten Ahlers war. Ich fühle mich gut; frisch, wach, der Gürtel sitzt lockerer als vor einer Woche. In meinem Abteil sitzen fünf Menschen, die Wurstbrote, Kekse, Kuchen und Laugenbretzeln vertilgen, ich trinke Tee. 

 

Ich denke zurück an meine Hinreise vor einer Woche, mit dem Zug von Koblenz nach Sylt in acht Stunden und muss lächeln; auch ich hatte ununterbrochen gegessen, wahrscheinlich eine Notreaktion meines Körpers - bald gibt es nichts mehr. 

 

Dabei war es dann gar nicht so: Vitalfasten heißt morgens ein grüner Smoothie, mittags Gemüsebrühe und abends eine pürierte Gemüsesuppe. An den letzten drei Abenden bekamen wir sogar abends eine köstliche Gemüsemahlzeit. Es war also nicht die Hardcore-Fassung Buchingerfasten, sondern eine tägliche Kalorienaufnahme von bis zu 500 Kalorien. Dazu täglich 12 bis 14 Kilometer pro Tag wandern; den Körper leicht und beweglich werden lassen.

 

Ich hatte mich ganz kurzfristig zu dieser Woche auf Sylt entschlossen, da ich die Insel sehr liebe. Abstand gewinnen vom Alltag, frische Seeluft atmen, mich viel bewegen, wieder in den Modus „weniger essen ist mehr“ kommen und, vor allem, mir die ewig kreisenden Gedanken aus dem Kopf pusten lassen. Das Fastenteam Ahlers bietet schon seit vielen Jahren „Aktives Fasten für Gesunde auf Sylt und anderswo“ an. In drei unterschiedlichen Häusern am Rande von Westerland gibt es das ganze Jahr über einwöchige Buchinger-, Vital- und Basenfasten-Seminare, und zusätzlich an ausgewählten Terminen Fasten-Specials an anderen Orten, wie Mallorca, Sardinien und der Ostsee.

 

Ich bezog also am Anreisetag mein Zimmer mit Balkon im Fasten-Hotel und begann am Abend mit dem traditionellen Bittersalztrinken zur Darmreinigung. Wie bei allen Fastenkuren wird die Darmreinigung als sehr wichtig angesehen, da sie einen entscheidenen Anteil am Erfolg des Fastens hat. Der Stoffwechsel kommt durch einen leeren Darm zur Ruhe und kann sich der Regenerations- und Entschlackungsarbeit im Körper widmen. Hierzu werden auch Einläufe alle zwei Tage empfohlen oder spezielle Colon-Hydro-Therapie-Anwendungen. Leerer Darm heißt klarer Kopf. Das konnte ich schon bei meiner ersten Darmsanierung vor vielen Jahren fühlen, und wird von vielen Ernährungsbewussten noch komplett ignoriert. Und man sollte nicht glauben, was wir auch bei regelmässigem Stuhlgang alles so täglich mit uns rumschleppen. 

 

Hier der Ablauf eines typischen Fastentages:

 

08.00h: Frühgymnastik im Freien

 

08.30h: Grüner Smoothie, langsam gelöffelt; Austausch in der Gruppe, Besprechung der Wandertour

 

09.15h: Wanderung über die wunderschöne Insel, jeden Tag anders und sehr abwechslungsreich, ca. 12-14 Kilometer (3-4 Stunden), manchmal mit Einkehr in Gasthäusern auf einen frisch gepressten Gemüsesaft

 

13.00h: Gemüsebrühe

Nachmittag zur freien Verfügung - Massage, Sauna, Leberwickel, Bummel durch die Stadt, Strandspaziergang, lesen, schlafen

 

18.00h: pürierte Gemüsesuppe, anschliessend ein Vortrag der Fastenleiterin Cora zum Thema Fasten/Gesundheit 

 

Hinzu kamen im Laufe der Woche 3-4 Stunden Yoga und ein Workshop zum Thema Intervall-Fasten.

In den Nächten schlief ich tief und lange, bei geöffnetem Fenster, eingekuschelt in weiche Decken, die frische Meeresluft auf dem Gesicht spürend. Am Morgen weckten mich die Möwen; das Hotel liegt nur wenige hundert Meter vom Meer entfernt. 

 

Warum aber nun eigentlich Fasten? 

Ist das nicht eine furchtbare Quälerei? 

Muss man sich alles verbieten? 

 

Genau darum geht es nicht. Beim Fasten für Gesunde geht es darum, Essen in Einfachheit und Ruhe wieder bewusst genießen zu lernen und sich seiner Konditionierungen im Bezug auf Essen bewusst zu werden. Früher hätte ich es mir überhaupt nicht vorstellen können, eine längere Zeit lang nichts zu essen. Essen bedeutete Sicherheit, Kompensation, Frustabbau, Genuss, das Füllen einer inneren Leere, aber war auch einfach eine Gewohnheit, etwas, das man eben mehrmals täglich tut und tun muss. Auch weil es ja alle tun, unsere Gesellschaft kreist um das Thema des mehrmals täglichen essen. Und weil man ja sonst verhungert. (Zu diesem Thema gibt es einen sehr interessanten und perspektiverweiternden Film: Am Anfang war das Licht.) 

 

Genau vor einem Jahr, im Februar 2018, habe ich zum ersten Mal gefastet und wurde eines Besseren belehrt (siehe Blogartikel vom 2. März 2018). Die plötzliche Leere im Magen und Kopf war mir zwar anfangs recht unangenehm, aber es öffnete im Laufe der Fastentage neue Weiten und eine wohltuende Ruhe in mir selbst. Ja, ich konnte NICHTS essen! Es ist möglich! Mal nicht zu einem Snack oder Kaffee greifen, wenn ich mich innerlich leer fühlte. Mich nicht mit einem reichlichen Essen „belohnen“ oder das Gefühl von Traurigkeit mit einer cremigen Speise überlagern. Nach dem Essen nicht noch unbedingt eine süße Nachspeise brauchen, und so viel davon, dass ich mich danach nicht mehr rühren konnte. Akute und chronische Schmerzen verschwanden und ich fühlte eine neue Frische im Kopf. 

 

Danach kamen noch zwei Fastenerfahrungen im April und Juli 2018 hinzu, verbunden mit Leber-/Gallenreinigung bei Veronika Sauer in Thailand und Thüringen, die meine Ernährungwelt völlig auf den Kopf stellten. Schon seit 2010 bin ich zwar Vegetarierin, trank gelegentlich grüne Smoothies und nahm intuitiv immer weniger Milchprodukte und Eier zu mir, aber die Seminare bei Veronika haben mir den Genuss der veganen, gluten-/zuckerfreien Ernährung mit hohem Rohkostanteil erst so richtig eröffnet. Seitdem blühen in meinem Garten nicht nur Blumen, sondern erntete in dem tollen Sommer 2018 mein eigenes Gemüse und sammelte auf meinen Wanderungen Wildkräuter. 

Hierzu siehe auch die Rubrik "Life Food". 

 

Jeder hat sicherlich andere Gründe zu essen, wenn es der Körper eigentlich gerade gar nicht benötigt. Oder kennt übermässige Hungergefühle, das Bedürfnis in bestimmten Situationen zu essen. Und ich kenne nicht viele Menschen, die ihrem Körper so vollkommen vertrauen und zuhören, dass sie ihm intuitiv genau das geben, was ihn gerade jetzt in seiner Lebendigkeit unterstützt. Und darum geht es doch eigentlich - Lebendigkeit -  LEBEN - oder? 

 

Denn ja, ich bin davon überzeugt, dass mein Körper genau weiß, was ihn lebendig und klar macht, ohne dabei einen Verzicht zu empfinden. Er weiß genau, wann es Zeit ist, eine Zeitlang ganz natürlich nichts zu essen, also zu fasten, wann es Zeit ist, genussvolle, gesunde Nahrung zu sich zu nehmen, eben LEBENS-mittel die gut schmecken und mich wach machen, und wann es Zeit ist, mal so richtig zu schlemmen mit allem was dazugehört. Es geht nicht darum, sich die Pizza beim Italiener oder das Glas Sekt in der Weinstube zu verweigern. Es geht darum mein ursprüngliches  Körpergefühl von innerer Fülle wieder freizulegen, das nicht gespeist ist von alten, äußeren Konditionierungen, sondern auf dem basiert, was JETZT WIRKLICH gut für mich ist. Was ich jetzt WIRKLICH brauche, um mich LEBENDIG und IN FÜLLE zu fühlen. 

 

Wenn ich mich gestresst fühle, vielleicht brauche ich einen Spaziergang an der frischen Luft und etwas Abstand, anstatt Kaffee und Kuchen? 

Wenn ich frustriert bin, vielleicht brauche ich nicht die Pizza auf der Couch, sondern Yoga, laufen oder einen wilden Tanz durchs Wohnzimmer, der die verstockten Energien wieder in Fluss bringt? 

Wenn ich traurig bin, vielleicht nicht einen süßen Brei oder ein Eis, sondern einen wohligen Saunagang oder eine Massage? 

Und wenn ich tatsächlich den Kuchen, die Pizza, das Eis brauche, kann ich es dann wenigstens vollkommen genießen, in dem Genuss schwelgen, ohne ein schlechtes Gewissen danach? 

 

Oder vielleicht muss ich einfach nur mal tief und bewusst durchatmen und über meinen eigenen bewussten Atem wieder zu MIR kommen, wirklich mir wieder nahe zu kommen und zu sagen: 

Es ist ok. 

Ich bin ok. 

Ich fühle die Leere, ich fühle die Angst, die Zweifel, den Frust, die Traurigkeit. 

Ich atme und es ist ok. 

Mechanisch oder wahllos zu essen wird mir dabei nicht helfen. 

Aber der Genuss eines tiefen Atemzugs, die Erlaubnis mich selbst so zu akzeptieren, wie ich gerade bin, in liebevollem Mitgefühl mit mir selbst. 

Einfach alles mal so zu lassen, wie es ist und hineinzuspüren in das, was ich WIRKLICH jetzt brauche. 

Selbstfürsorge. 

Loslassen. 

Seinlassen. 

Abstand gewinnen. 

Klarheit, um neu zu wählen, wie ich mein Leben gestalten möchte. 

In diesem Moment und generell. 

 

Meine Zugnachbarn sind zum dritten Filterkaffee übergegangen. Ich mag den warmen Geruch, aber trinken würde ich ihn jetzt nicht wollen. 

Wie kann das sein? Wieso mag ich einen Geruch, aber möchte das Getränk nicht konsumieren? 

Ich fühle tiefer hinein in den Geruch. 

Bilder steigen auf, Bilder einer Kaffee- und Kuchentafel zu Hause bei meiner Oma. Filterkaffee und Blechkuchen am Samstagnachmittag, ich bin noch ein Kind, knie auf der Eckbank in der warmen Küche. Alle sind da, die mir Sicherheit geben. Es ist gar nicht der Kuchen, es ist das alte Gefühl der Familie, das ich gespeichert und mit Kaffee und Kuchen verbunden habe. 

Vielleicht kann ich es auch selbst in mir finden, dieses Gefühl von Sicherheit? 

Ist es wirklich der teigige Zucker und der bittere Kaffee, die mir das geben sollen?

Können sie mir überhaupt irgendetwas geben, außer vielleicht einen bewussten Moment-Genuss, wenn ich gerade frei von innerer Leere bin, mich in mir selbst schon gefüllt fühle?  

 

 

Ich öffne die Augen und sehe mich um; draußen immer noch endlos plattes Land, blauer Himmel, Sonne, Windräder und große Bauernhöfe. Ich mag den Norden. Ich mag das Reisen.

Und ich mag das Entdecken meinerselbst, jeden Tag neu, in all diesen wundervollen Ausdrucksformen, die ich als Mensch habe.

 

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