
Im Café Central esse ich fettiges, cremiges Rührei mit gebratenen Champignons. Versinke in weichem, dickem Möhrenbrot und schwerem Kakao. Der kalte, feuchte Wind hat mich aus dem abgebrochenen Literaturspaziergang hierhergetrieben; die zugigen Passagen und Höfe und das Warten auf das Interessante waren plötzlich unerträglich geworden. Gestern war noch Sommer. Plötzlich überstürzte Lust abzureisen, ich scrolle durch die Zugfahrpläne und entscheide neu.
Manchmal wird die Freiheit unerträglich.
Oder sind es die darunterliegenden Fesseln, die ich spüren kann?
Plötzlich sind die Novellen wieder da, wabern durch meinen Kopf.
Lange hatte ich sie abgelegt: Nicht zeitgemäß. Zu speziell. Ein wenig altertümlich. Und doch, als der Tagungsreferent am Freitag das Wort „Novelle“ erwähnt, da spüre ich mein Herz in sonderbarem Wohlgefühl hüpfen. "Der Frühling der Barbaren" hat Eindruck hinterlassen, ebenso sein Lektor. Am Bahnhof, kurz vor der überstürzten Abreise werde ich Schnitzlers Traumnovelle und Zweigs Schachnovelle als Hamburger Lesehefte für EUR 1,60 kaufen, in rot und blau. Dazu Kafkas Verwandlung in grün-grau, warum ist mir nicht klar. Verzückende Hefte. Dicht gedrängte Sätze, in die man langsam eintreten muss, wie in einen dichten, dunklen Wald, der sich hoffentlich oder leider bald lichtet. Tatsächlich macht mich wenig so glücklich wie ein gutes Buch oder Leseheft, ein großzügiger Notizblock und ein fließend schreibender Stift. Es gibt mir ein Gefühl von Richtigkeit.
Jetzt ist es richtig.
Bei dem Wort Lektor muss ich immer an Hannibal Lecter denken, und ich versuche es mir jedes Mal zu
verkneifen, denn dieser Witz meines Verstandes ist nun wirklich blödsinnig. Dieser Lektor des Freitagabends hat die Erinnerung an das Literaturinstitut aufgewühlt, die ich abgelegt hatte unter
den Rubriken „Geht ja nicht“ und „Zu spät“. Ich bin dann hingegangen am Abend. Breite Straßen und hohe Gebäude,
die Zeitlosigkeit ausstrahlen, eine großzügige Weitläufigkeit. Dort dann dicht gedrängte Menschen in einem langen, schmalen Raum mit hohem Fenstern, ganz vorne die Vorlesenden. Ich beobachte die
Atmosphäre, kann in keine Geschichte eintauchen, höre stattdessen die geschwungen klingenden Worte auf ihrem Weg durch den Saal. Er erinnert mich ein bisschen an den großen Saal von Hogwarts,
obwohl er ganz anders ist. Ich passe nicht hierher. Wo passe ich eigentlich hin? Ich schaffe nur zweieinhalb Lesungen, dann muss ich gehen. Später am Abend recherchiere ich doch noch zu den Literaturinstituten
in Leipzig und Hildesheim. Es erscheint mir wie ein Nirwana, mich mit nichts anderem als dem Lesen und Schreiben beschäftigen zu können. Tief einzutauchen in neue Impulse, neue Gedanken, ein
neues Umfeld, ein neues Gefühl von mir selbst. Mit dem Schreiben zu experimentieren. Sätze zu fühlen, Bilder in Worte zu kleiden. Alles, was mich im Hintergrund beschäftigt, und sich regelmässig
in den Vordergrund drängt, einmal loszulassen. Ist es möglich, die inneren Fesseln zu lösen? „In Kiras Kopf gibt es keine Grenzen“ ist ein Satz, den ich mir in meiner aktuellen Lektüre markiert
habe.
An dem Ort, wo der Lektor (schon wieder der Hannibal-Gedanke, ich sehe Anthony Hopkins mit
Maulkorb in blauem Overall vor mir, dabei habe ich den Film nur einmal gesehen und kann mich an sonst nichts erinnern) von der Novelle erzählte, stellte ich mir während der anderen Vorträge vor,
wie ich den großen, hellen Tagungsraum hoch über der Stadt zu einer Wohnung einrichten würde. Alles offen, Küche in L-Form, Wohnbereich mit großer, cremebrauner Couch (wieder L, den Buchstaben
scheine ich zu mögen) und flauschigem, weißem Teppich, ein dunkelbrauner Schreibtisch mit Aussicht, ein altes Klavier, vielleicht ein Blüthner. Auf dem umlaufenden Balkon viel Grün, die großen
Panoramafenster meist offen. Könnte ich in dieser Stadt wohnen? Die Frage stelle ich mir an jedem neuen Ort. Ich habe noch keine eindeutige Antwort bekommen. Auf den ersten Seiten vom „Frühling
der Barbaren“ steht „Du stellst die falschen Fragen“.
Durch meine letzten Tage hat mich Daniela Krien und ihre Geschichte der fünf Frauen begleitet.
Sehr intensiv, dabei wusste ich bis Donnerstag noch gar nicht, dass sie existiert. Hier auf der Buchmesse begegnet sie mir überall, auf ihrem Buchcover oder in echt. „Die Liebe im Ernstfall“ ist
ein echt bescheuerter Titel, finde ich, aber etwas in mir hat sich nicht abhalten lassen. Nun bin ich fasziniert von dem Gedanken, die gleiche Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven zu
erzählen, so lange bis das ganze Bild deutlich wird. Oder das, was wir für das ganze Bild halten. Vielleicht ist das der Schlüssel für meine Novelle, die bisher keine sein durfte. Gestern habe
ich vier Sätze geschrieben, die die Handlung der Geschichte auf den Punkt bringen sollen. Heute weiß ich, dass das Wesentliche etwas anderes ist, dass ich noch nicht ganz erkenne.
Dieses Mal bin ich mit leichtem Gepäck gereist. Zwei Hosen, zwei Paar Schuhe und Socken, zwei
Pullover, zwei T-Shirts, Unterwäsche, Kulturbeutel, zwei Schreibhefte, Laptop, Stifte, e-Reader, Geldbeutel, Telefon. Wenn ich es so aufschreibe, erscheint es mir recht viel an Dingen. Aber
überall habe ich mein Gepäck überprüft, weil ich mir sicher war, etwas vergessen zu haben, denn es fühlte sich leicht und wenig an. Vermisst habe ich nichts. Außer vielleicht Ohrstöpsel. Unter
meinem Hotelfenster in der Einkaufspassage spielte jeden Abend der gleiche Musiker die gleichen Melodien in der gleichen Reihenfolge. Die Vorbeigehenden merken das ja nicht.
Vor ein paar Tagen hat Facebook mir einen Mann vorgeschlagen, dem ich eine Freundschaftsanfrage
senden könnte. Er trug einen graumelierten Vollbart, eine runde Brille und ein Barrett aus rotem Filz. Diesen Mann treffe ich am Samstag an der Straßenbahnhaltestelle, aber ich gebe mich nicht zu
erkennen. Überhaupt sind die Fahrten mit der Straßenbahn zum Messegelände spannend. Dicht gedrängte Menschen und Wesen einträchtig nebeneinander; die Comic-Messe bereichert die Buchmesse vor
allem farbig. Ich bin fasziniert davon, in welche abgefahrenen Rollen Menschen unterschiedlichen Alters schlüpfen und realisiere erst hier, in welchen Welten und Realitäten eine ganze Szene sich
wohl Tag täglich oder zumindest am Wochenende bewegt.
In der Straßenbahn sitze ich neben einer dunkel gekleideten Frau, die ihre Tasche auf dem Schoß
festumklammert hält. Plötzlich beginnt sie hektisch darin zu wühlen, durchräumt jedes Fach gründlich. Dann ein tiefer Seufzer und sie verharrt wieder in Regungslosigkeit. Ich frage mich, ob sie
fand, was sie suchte, oder ob sie realisierte, was sie vergessen hat.
Zwischendurch packt mich hin und wieder ein überwältigendes Gefühl von tiefer Übelkeit und
Schwindel, so als verlöre ich den Boden unter den Füssen, seit einigen Tagen schon. Ich versuche das Gewusel an Menschen und Eindrücken auf der Messe, und das Gewusel an Gedanken und Emotionen in
meinem Hinterkopf wie einen Endlos-Stummfilm vorbeilaufen zu lassen, und mich stattdessen auf einzelne, ganz konkrete Punkte des Moments zu konzentrieren:
Die bedächtige Reaktion des Schriftstellers auf die Interviewfragen des Journalisten, die viel zu eng erscheinen, für das, was er zu sagen
hat.
Den Mann in Frauenkleidern, mit Perücke und Schminke, der aussieht wie eine ganz gewöhnliche Mittfünfzigerin, und in der Diskussionsrunde sagt, er sehne
sich danach, auf Händen getragen zu werden.
Die Asiatin, die vor dem Messegelände mit breitem Lächeln kostenlose, dunkelrote Bibeln verteilt.
Der magere, schwarzgekleidete Knabe mit ausdruckslosen Augen, der einen Mundschutz mit der Aufschrift „Free Hugs“ trägt.
Der Radiomoderator, der souverän erklärt, wie er eigene Erfahrungen in seinem Roman verarbeitet hat, während seine Augen leicht flackern und der Atem
flach bleibt.
Ich habe das Gefühl an zwei Orten gleichzeitig zu sein.
Unendlich frei und unendlich gefangen.
Am Bahnhof vor der Abreise habe ich noch etwas Zeit. Er ist klug gebaut, dieser Bahnhof, man kann
auf unterschiedlichen Wegen hinein- und hinausgehen. Ich laufe mit meinem kleinen Koffer auf dem Erdgeschoss hinein, fahre mit der Rolltreppe hoch zu den Bahngleisen. Dann laufe ich durch das
große Tor die alten Steintreppen wieder hinunter Richtung City-Ausgang und tue so, als würde ich gerade erst ankommen. Nochmal alles auf Anfang; vier Tage laufen im Schnelldurchlauf rückwärts, so
wie früher die Filmspule am Projektor, wenn wir zu Hause alte Filme aus der Super-Acht-Kamera schauten. Einer der Referenten am Freitagabend gab die Empfehlung sich die Frage zu stellen „Wie
schreibe ich meinen nächsten Text?“ anstatt die Frage „Warum lebe ich?“.
Vielleicht ist das ein kluger Ratschlag. Die zweite Frage könnte sich ja dann beiläufig auch klären, wenn sie sich nicht mehr so wichtig nimmt.
In jedem Fall habe ich ein paar wichtige Worte/Aussagen aus Leipzig mitgebracht. Sie kommen in
mein Wichtige-Worte-Sammelbuch:
- Verdichtetes Schreiben
- Kondensieren
- Prägnanz
- Relevanz
- Novelle
- Selbstbetrachtung
- Wesen
- Existentieller Frieden
- Gedanken sofort aufschreiben: alles ist Material.
- Einen ersten Satz schreiben, für eine Erzählung vielleicht.
- Sätze weglegen, wiedervorholen, anders betrachten, auf den Kopf stellen, wegwerfen, neu schreiben.
- Eine Form finden. Aus dem Material Szenen bauen.
- In mich hineinfühlen: Was fühlt sich gut an? Dem vertrauen.
- Hinter die kleine Mauer treten, um die Dinge mit Abstand zu betrachten.
- Geschehenes an andere Orte versetzen, mit anderen Figuren: Eine neue Geschichte um die Essenz herum schreiben. Jeder Autor erzählt von sich selbst, ohne sich selbst darzustellen.
- Gute Zaubertricks und Geschichten funktionieren auf mehreren Ebenen.
- Opfergeschichten will keiner lesen, der nicht selbst eines ist.
- Je krasser etwas ist, umso sachlicher davon erzählen.
- Genau das habe ich auch erlebt, nur anders.
- Der Text weiß mehr über den Autor, als der Autor selbst.
- Die Essenz einer Geschichte wird einem als Schreibender oft erst später klar, am Ende des Schreibens, einige Zeit später oder im Gespräch mit anderen.
- Gute Geschichten stoßen heimlich und bescheiden auf die großen Fragen des Lebens, in dem der Schreibende die Welt um sich herum beobachtet. Was ist der Bezug zwischen Jetzt und Essenz?
- Am Anfang ist es ein Stochern, möglichst nah am Erleb(t)en zu sein.
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