Aus der Asche - Sommerreise Teil 1

 

Gedanken fliegen,

Momente liegen 

Brach.

Unruhig zitterndes Herz, 

Fliehender Körper -

Wovor hast Du Angst?

 

Alles dreht sich, bewegt sich 

In Spiralen,

Verlieren oder loslassen?

Keine Ruhe vor dem Sturm,

Und doch bleibt er aus.

Immer auf dem Sprung,

Beobachtend.

 

Atme tief, mein Vogel,

Atme tief und schwing dich auf 

Ins Licht -

Es ist soweit.

Jetzt.

Oder bald?

Verbrenne die Zweifel,

Wenn du willst. 

 

 

Diese Zeilen habe ich Ende Juni in mein Notizbuch geschrieben. Die Umstände weiß ich nicht mehr. Und jetzt sind sie mir wieder in die Hände gefallen, da ich über Venedig schreiben möchte. 

 

Venedig…ich hatte keine große Vorstellung, außer Touristen und Tauben, Wasser und Brücken, Markusplatz und italienisches Essen. Ich mag Inseln sehr, und mir war nicht bewusst, dass ich hier auf meine nächste Liebesgeschichte treffen würde, die Liebe zu einer Stadt ganz von Wasser umgeben, mit einem engen, alten Gassenlabyrinth, in denen viele Künstler gewandelt sind. Natürlich treffe ich gleich auf Thomas Mann ("Tod in Venedig") und Hermann Hesse ("Lagunenzauber"), nur zwei deutsche Venedig-Anbeter. 

 

Ich komme an einem Mittwoch Mitte Juli also an. Schon das Wassertaxi ist ungewohnt. Ich werde noch erfahren, dass es verschiedene Spezies dieser Venedig-Fortbewegung geben wird, vaporetto, traghetto, motoscafi, alilaguna. Ich wohne im Sestiere Castello, gleich neben der Biennale, der internationalen Kunstausstellung, die zur Zeit stattfindet. Eine gute Wahl, dieses Stadtviertel. Wenn man sich nur zwei Gassen von der Promenade entfernt, steht man an einem ruhigen Campo, wo die Einheimischen ihren caffè trinken. Hier befindet sich auch das Arsenale, die ehemaligen Schiffswerft und Flottenbasis der Republik Venedig. Die Republik Venedig war, unter der Herrschaft der Dogen, bis 1797 eine zentrale See- und Wirtschaftsmacht, die als Umschlagplatz zwischen dem Byzantinischen Reich und dem Heiligen Römischen Reich fungierte. Dann übernahmen die Österreicher (nach einem kurzen Napoleon-Intermezzo) und gliederten Venedig in die Habsburger-Monarchie ein, bis Venedig dann 1866 an das Königreich Italien weitergereicht wurde. Und diese Mischung der Kulturen ist zu spüren, schon wenn man nur den ersten Schritt vom Wassertaxi auf die Insel betritt - das Venezianische, das Habsburgische, das Italienische, das Touristische…Venedig hat viele Gesichter. Und der Markusplatz ist tatsächlich so majestätisch, wie man erzählt bekommt. 

 

Wenn ich in eine neue Stadt fahre, lese ich gerne auf dem Weg dorthin etwas, das von dem Ort handelt oder dort geschrieben wurde. Keinen Reiseführer, aber etwas, das mir besondere Aspekte des Ortes eröffnet. Und schon die ersten Sätze meines Buches fesseln mich - der Autor erzählt, wie er 1971, eher per Zufall, der Beerdigung von Igor Stravinsky auf der Toteninsel San Michele beigewohnt hat. Vor meinen inneren Augen zieht eine schwarze Gondel vorbei, die mich bis zur Abreise (und darüber hinaus) nicht mehr loslassen wird.

 

Überhaupt, die Gondeln. Gondeln in Venedig sind ja wohl wirklich touristisch. Wie der Fiaker in Wien. Eine rein touristische Attraktion, denke ich bei meinem ersten Abendessen direkt am Ufer eines kleinen Kanals. Als dann eine vorbeikommt, bin ich fasziniert. Die Eleganz, das Dahingleiten bezaubert mich. Und immer wieder die schwarze Gondel vor meinem inneren Auge. Diese allerdings ist geschlossen, eine alte, ehrwürdige Gondel aus einer früheren Zeit. Und ich weiß, es sitzt jemand drin, den ich noch nicht erkenne. 

 

„In der eleganten Gondel durchstreife ich die Stadt. Sie ist die ästhetische Vervollkommnung der zweckfreien, nur der Muße, der Konversation oder der geheimen Erotik dienenden Fortbewegung…

Sie ist ein Solo-Instrument, das seine ganze geheimnisvolle Wirkung vor allem allein, in der Stille und in einer bestimmten Umgebung entfaltet….

Vollkommen geräuschlos gleitet sie in den ruhigen, abgelegenen Kanälen wie ein stummes Wesen durch das beinahe regungslose, angespannt atmende und ihre Berührung geradezu sehnsüchtig erwartete Wasser…

Dem Wasser angepasst, fließt sie ruhig mit, passiv, still, unendlich zurückhaltend und vornehm…“. 

So kann nur Hanns-Josef Ortheil schreiben ("Venedig: Eine Verführung"). 

 

Ich habe lange nicht mehr geschrieben. Bin fast ein bisschen ängstlich, was das werden soll. Bin her gekommen zu einer Schreib-Werkstatt und dem Schreiben so fern, wie lange nicht mehr. Es hat sich einiges angesammelt über die letzten Wochen an Menschlichem, was ich erst einmal durchdringen muss, ohne mich darin zu verlieren - um tiefer zu gelangen. Die Seltsamkeit Venedigs hilft mir in meiner eigenen Seltsamkeit, dem ständigen Wandel zwischen menschlichen Dramen, Themen, Problemen, Freuden und dem großen Gefühl des Besonderen, des Unendlichen, des Ewigen; der Magie, die mich ständig begleitet, auf einer tieferen Ebene. 

 

Und wieder zieht die schwarze Gondel vorbei.

Ich fühle Trauer, eine alte Trauer und eine neue Traurigkeit. Und ich fühle Tiefe, unergründlich, wie das grünliche Wasser der Kanäle, immer in Bewegung, immer eine Einladung, einzutauchen in die Schichten, die tiefer liegen als das Offensichtliche. 

 

Und wieder zieht die schwarze Gondel vorbei. 

Dann fällt es mir ein. Richard Wagner ist hier gestorben. Mich packt eine tiefe Faszination. Ich habe immer mal wieder Wagner-Phasen, so wie ich Bach-Phasen habe, oder ähnliches. Hier läuft nun der ganze Film vor meinen Augen ab. Wie er im Februar 1883 hier in Venedig im Palazzo Vendramin-Calergi mit fast siebzig Jahren einem Herzanfall erlegen ist, dann mit der schwarzen Gondel zum Bahnhof gebracht wird, wo ein Zug ihn nach Bayreuth bringt, nach Hause, zur Bestattung im Garten seiner Villa Wahnfried. Tod in Venedig. Ja klar, Thomas Mann hat viel über Richard Wagner geschrieben, eine Hass-Liebe, wie bei so vielen, da Wagners Kompositionen grandios waren und sind, und er selbst gleichzeitig ein polarisierender Mensch, mit einer noch polarisierenderen Familie nach seinem Ableben, aber das ist eine andere Geschichte. Hier nun die venezianischen Jahre Richard Wagners. Er kam mehrmals hierher, für einige Wochen, für einige Monate. Zuletzt im September 1882 mit seiner Familie, Frau Cosima, der Tochter Franz Liszts, und den Kindern Isolde, Eva und Siegfried. Nach einem kurzen Hotelaufenthalt mieteten sie ein Stockwerk mit 18 Zimmern im Palazzo am Canal Grande; Franz Liszt kam zu Besuch im November, im Dezember, zu Weihnachten und Cosimas 45. Geburtstag, dirigierte Wagner im Foyer des La Fenice ein Schulorchester des Liceo Benedetto Marcello, die seine C-Dur Symphonie aufführten. Eine der ersten Kompositionen Wagners, fünfzig Jahre nicht mehr gespielt. Für das kommende Jahr 1883 war die italienische Uraufführung des „Ring der Nibelungen“ im La Fenice geplant, er würde es nicht mehr erleben. 

 

Wie ein Vorhang öffnet sich plötzlich ein Reich, das unter dem Offensichtlichen liegt. La Fenice…das Gran Teatro. Ich beschließe am Sonntag, nach der Schreib-Werkstatt, hinzugehen, um mir anzusehen, wo Wagner sein letztes Konzert gegeben hat. Nicht nur wegen Wagner, das La Fenice ist berühmt. Fünf Verdi-Opern wurden hier uraufgeführt, zum Beispiel La Traviata 1853, und das Opernhaus hat eine interessante Geschichte. 1792 eröffnet, nachdem 1773 das alte Teatro San Benedetto abgebrannt war, dann 1836 selbst abgebrannt (man vermutet den Defekt einer österreichischen Heizungsanlage) und wieder aufgebaut, und dann 1996 wieder abgebrannt und 2003 neueröffnet. Der letzte Brand ist besonders spektakulär: Zwei Elektriker, die bei Renovierungsarbeiten im La Fenice in Verzug waren, legten ein kleines Feuer, um der Konventionalstrafe zu entgehen (weil durch einen kleinen Brand in La Feine die Renovierungsarbeiten angedauert hätten). Leider ist dabei das ganze Haus abgebrannt. 

 

Drei Brände? Immer am Ende eines jeweiligen Jahrhunderts? 

Dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen (eigentlich mag ich diese Metapher nicht) - Fenice heißt Phönix. Phönix aus der Asche. Ich grabe in meinen Erinnerungen. Phönix ist der mythischer Vogel, der am Ende seines Lebenszyklus verbrennt, um aus dem verwesenden Leib, seiner Asche, wieder neu zu erstehen. Ein wundervolles Bild für Transformation, für das ständige Verändern, den stetigen Zyklus an Erschaffen und Zerstören, und für die Notwendigkeit und Natürlichkeit von Bewegung - alles ist in Bewegung, muss in Bewegung sein, um spiralförmig aufzusteigen, zu wachsen, sich zu entwickeln, und die Zerstörung gehört zwangsläufig dazu, damit Neues entstehen kann - wie ein Einatemzug, der nur möglich ist, wenn man vorher ausgeatmet hat. 

 

In dieser Nacht beginne ich zu schreiben. Erst ein Gedicht, das aus eindrücklichen Bildern entsteht. Die feuchte, schwarze Erde auf der Toteninsel San Michele. Das dunkle Wasser der Kanäle, auf dem die schwarze Gondel gleitet. Ein schwerer, dunkler Vorhang im Opernhaus, der den Zuschauerraum von der Bühne trennt, die Realität von der Illusion. Nur, was ist wirklich Realität und was ist Illusion? Ist das Spiel auf der Bühne die Illusion? Oder die Zuschauer, die das Spiel betrachten? Alles verwebt sich zu einem Ganzen, zu einem Gefühl. Aus dem Gedicht entfaltet sich eine Szene, zwei Seiten, die mich überraschen und beglücken. Das Schreiben ist da, es ist immer da. Ich muss den Hahn nur öffnen. Zeitlos werden, die Gedanken loslassen, den Bildern folgen. Ich weiß doch, dass es so funktioniert.

 

Zwölf Stunden schwelge ich innerlich in meiner Szene, dann kommen die ersten Zweifel. Und nun? Wie geht es weiter? War das schon alles? Kann ich die Stimmung der Szene weitertragen, weiterentwickeln? Wer sind diese Personen, die da zu mir gekommen sind? Ist es nicht zu pathetisch geschrieben? Versteht das überhaupt jemand? Auch das kenne ich schon. Mein Verstand möchte weitermachen, die Bilder beiseite schieben und dem ganzen eine Logik geben, eine Story entwickeln. Jetzt ganz behutsam vorgehen. Die Bilder nicht zerstören, langsam wie eine Gondel weitergleiten, in irgendeine Richtung. Und ja, es geht weiter, tatsächlich. Ich beleuchte die Figuren, sie erzählen mir ein wenig, wer sie sind. Ich gleite in verschiedene Richtungen, kehre wieder um, wie durch Nebel, folge Spuren.

 

Das ist es, was mich fasziniert, was mir Spaß macht: Das Entdecken von etwas Neuem, das Verfolgen einer Richtung, das Aufdecken von Verbindungen, die mir bisher nicht bewusst waren, darin den Reichtum zu sehen, der uns ausmacht. Und plötzlich öffnet sich ein Vorhang zu einer neuen Welt und meine innere Magie verknüpft Dinge, die bisher ungesehen waren, unerkannt. Ich gleite in die Tiefe und entdecke, was es da noch gibt, neben dem Offensichtlichen. 

 

 

Der Besuch in La Fenice am Sonntag kurz vor meiner Abreise bestätigt mir, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Das Opernhaus ist beeindruckend und ich werde zurückkehren, um eine Aufführung hier zu sehen, denn zur Zeit ist Sommerpause. Ich bin dankbar für die Welt, die sich mir in Venedig eröffnet hat. Ich höre wieder Wagner. In Venedig hat er an seinen Werken gearbeitet. In Venedig und an so vielen Orten. Natürlich auch in Bayreuth.

 

Bayreuth…das spukt mir auch schon länger im Kopf herum. Die Bayreuther Festspiele, die Villa Wahnfried, das Festspielhaus, das Grab besuchen. Aber Karten für die Festspiele zu bekommen ist utopisch. Im Alilaguna zum Flughafen nehme ich einen tiefen Atemzug und lächele…erstmal Venedig sacken lassen, diesen Schatz genießen. Dann sehen wir weiter. 

 

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