Kreutzersonate

Ich habe sie also gelesen. 

 

Grundsätzlich mag ich Tolstoi. 

 

Ich mag seinen auktorialen Erzählstil. Er hat für mich etwas Altes, Erhabenes. 

Etwas Altes, Erhabenes des 19. Jahrhunderts, das mir sehr nahe ist. 

 

Man setzt sich also in einen bequemen Ohrensessel ans Fenster, eine Decke um die Knie, draußen der graue Winter, drinnen eine kleine Kerze, vergisst das Heute und lässt sich das Damals erklären, und staunt plötzlich, wie sehr es noch im Heute gilt. 

 

Und grundsätzlich mag ich Novellen. 

Diese ist 130 Jahre alt. 

 

Und vor Freud, Jung und ihresgleichen gelingt es Tolstoi auf faszinierende Weise, die inneren Schatten und Dämonen, den Kampf des Menschen mit seinen eigenen Emotionen eindrücklich und glaubhaft zu schildern. 

 

Zeitlich weit vor all den Psychotherapeuten und Beziehungs-Coaches von heute schildert der Protagonist der Erzählung eindringlich den Verlauf seiner toxischen Beziehung zur Ehefrau, wissend, dass er sich in einer solchen befindet, aber nicht bereit, den zerstörerischen Kreislauf zu unterbinden, der ihn spiralförmig weiter in die Tiefe zieht, ganz im Gegenteil, wie ein Süchtiger die toxische Substanz der Ko-Abhängigkeit immer weiter aufsaugend, sich am eigenen Leid nährend, wie ein Virus es tut, ein wahrhaftiger energetischer Sexualvirus, der sich des Menschen bemächtigt, ihn Dinge tun lässt, die ihn selbst und das Gegenüber erniedrigen, die ihn letztlich zerstören. 

 

Nicht damals habe ich sie getötet, sondern viel früher. Ganz wie heute alle Männer sie töten, alle, alle…

Beachten Sie, unter den Mädchen, den unberührten, gibt es keine Epilepsie, nur bei den Weibern, und zwar bei den Weibern, die mit Männern leben. 

So steht es bei uns. Und in Europa ist es ebenso. Alle Krankenhäuser für Hysterische sind voll von Frauen, die das Gesetz der Natur verletzen. (Kap. 13)

 

Ja, der gestandene Mann selbst, nicht die wankelmütige Frau wird hysterisch und wahnsinnig im eigentlichen Sinne, was ihn zur Tötung seiner Ehefrau treibt, aus Eifersucht. Es ist das klassische Opfer-Täter-Spiel, in dem die Rollen nie eindeutig geklärt sind, dieses Spiel, das so verführerisch ist in seinem Drama, in seinem Leid und seiner Euphorie, dass niemand es loslassen möchte, dass niemand aus diesem Spiel aussteigen möchte. Tolstoi selbst macht dafür in seinem berühmten Nachwort zur Novelle die Sexualität verantwortlich. Für ihn ist nur eine eheliche Bruder-Schwester-Beziehung frei von diesem Sexual-Virus. 

 

Damals verstanden wir nicht, dass diese Liebe und diese Gereiztheit das gleiche tierische Gefühl waren, nur von verschiedenen Polen betrachtet. 

So lebten wir in einer beständigen Umneblung und sahen die Lage nicht, in der wir uns befanden. (Kap. 17)

 

Ich glühte bei dem Anschauen dieser Bilder vor Empörung, Wut und einem seltsamen Gefühl der Berauschung an meiner eigenen Demütigung. 

Je länger ich diese Bilder der Fantasie ansah, desto mehr glaubte ich an ihre Wirklichkeit. (Kap. 25)

 

Ende des 19. Jahrhunderts löste diese Novelle einen Skandal aus, weil er sämtliche Tabus der gesellschaftlichen Normen und Gepflogenheiten aussprach, offenlegte und als nicht christlich brandmarkte. 

 

Das Kunststück der Novelle ist also, dass man laut Klappentext schon alles weiß - Pointe verraten, alles gespoilert, und trotzdem ist die Lektüre spannend und beeindruckend in ihrer intensiven Schilderung des Innenlebens des Protagonisten. 

 

Hinzu kommt die Verknüpfung des Themas Sexualität mit dem Motiv der Kunst. Warum heißt die Novelle „Kreutzersonate“? Der Titel geht auf Beethovens 9. Violinsonate von 1802 zurück. Das Eifersuchtsdrama in Tolstois Novelle nimmt seinen Lauf, weil die Ehefrau und ihr mutmaßlicher Verehrer gemeinsam musizieren. Musik wird hier also zur Verführung, zum Alibi für geheime Treffen stilisiert, Musik als Kunst, die im 19. Jahrhundert als gesellschaftlich anerkannte Form die Leere zwischen den Normen zu füllen hatte und damit den Sittenverfall (wie Tolstoi ihn nennt) begünstigt, da Kunst die Sinnlichkeit fördert. 

 

Und damit fing alles an, wie der Protagonist sagt, als sich die Ehefrau wieder zum Klavierspiel hinwendet. Das dramatische Beziehungs-Dreieck wird über die Kunst etabliert, so wie es von Tolstoi als gesellschaftliche Norm im 19. Jahrhundert stilisiert und kritisiert wird. Die Kunst wird zum Anlass der Eifersucht. Und gleichzeitig auch ist die Kunst der Musik interessanterweise das Symbol für eine gefühlsmäßige Verbindung, an dem der Nicht-Musizierende nicht teilhaben kann. Eigentlich ist dem Protagonisten zu bedauern, da im anscheinend etwas Entscheidendes fehlt, um wirklich zu lieben, um das tiefe Gefühl zu empfinden, das seine Ehefrau und der Musiker anscheinend teilen, was dann in das Drama der Tötung gipfelt. Ob Tolstoi daraus folgern sollte, dass alle Ehe besser ohne Sexualität ablaufen sollten (siehe Nachwort), ist dennoch fraglich.  

 

Und doch wissen alle recht gut, dass gerade diese Beschäftigungen, ganz besonders die Musik, einen großen Teil der Ehebrüche in unserer Gesellschaft zur Folge haben…Die Musik…wirkt erregend auf die Seele…Mir war, als tauchten neue Empfindungen in mir auf, neue Möglichkeiten, die ich vorher nicht gekannt. (Kap. 21)

 

Spannend auch das geschilderte Frauenbild und die Frage, ob es wirklich zur wahren Freiheit und Emanzipation der Frau beiträgt, wenn sie sich endlich gleichberechtigt mit dem Mann einen Liebhaber nehmen kann. Ist diese Art der Ebenbürtigkeit wirklich Freiheit? Oder ist es eher eine Herabsetzung auf das „Niveau“ des Mannes, der Ausbeutung, Unehrlichkeit und sexuellen Genuss als sein gesellschaftliches Recht empfindet? 

 

Die Sklaverei der Frau besteht ja doch nur darin, dass die Menschen das Verlangen haben und es für sehr gut halten, sie auszubeuten als ein Mittel zum Genuss. Und siehe da - sie befreien die Frau, geben ihr alle Rechte des Mannes, betrachten sie aber nach wie vor als ein Mittel zum Genuss, erziehen sie in diesem Sinne in der Jugend und in der öffentlichen Meinung…Eine Veränderung wird erst eintreten, wenn die Frau selbst als die höchste Stufe die Jungfräulichkeit betrachten wird, nicht wie jetzt, da der höchste Zustand des Menschen als eine Schande, ein Makel betrachtet wird. Solange das nicht erreicht ist, wird das Ideal jedes Mädchens, ohne Unterschied der Bildung, immer noch das sein, so viel Männer als möglich anzuziehen.…Als in ihr mit besonderer Macht das schlummernde Gefühl weiblicher Gefallsucht erwachte. (Kap. 14)

 

Er tut es also wirklich. Der Protagonist steigert sich so sehr in seine Eifersuchtsfantasien hinein, wird so getrieben von der gefühlten gesellschaftlichen Demütigung eines betrogenen Ehemannes, dass er die Ehefrau wie in Trance ersticht. Nur diese Tat, dieser Schock erlaubt die Läuterung, die Umkehr. Nur die Opferung der Frau.

 

Zum ersten Male vergaß ich mich selbst, meine Rechte, meinen Stolz; zum ersten Male sah ich in ihr den Menschen…Die Erkenntnis begann, als ich sie im Sarge sah…Wenn ich gewusst hätte, was ich jetzt weiß, es wäre etwas ganz anderes gewesen. Ich hätte sie nicht geheiratet, um nichts in der Welt, und nie hätte ich geheiratet! (Kap. 28)

 

Und dann das Nachwort also.

Tatsächlich fügte Tostoi seiner knapp 100 Seiten starken Novelle 20 Jahre danach (am 24. April 1900) eine zwanzigseitige „Predigt“ an, mit der er sein Werk und dessen Botschaften selbst interpretiert, auch im Hinblick auf den Skandal, den „Die Kreutzersonate“ ausgelöst hat. 

 

Darin erhebt er fünf Forderungen, die alle ein Keuschheitsgebot enthalten: 

 

…einen ganzen Stand von Frauen schaffen, die körperlich und seelisch zugrunde gehen müssen, um das vermeintliche Bedürfnis der Männer zu befriedigen und die unverheirateten Männer ergeben sich mit vollkommen ruhigem Gewissen den Ausschweifungen.

…müssen wir begreifen, dass die Enthaltsamkeit, welche eine unerlässliche Bedingung der menschlichen Würde im Zustande der Nicht-Ehe bildet, in der Ehe umso mehr zur Pflicht wird.

 

Nun, mutig war er ja, gegen Gesellschaftsnormen und seine eigene Ehefrau Sofia Andrejewna Tolstaja anzuschreiben, die das Werk durchaus verletzt zu haben scheint, was sie mit einem eigenen Roman 1893 beantwortete: „Eine Frage der Schuld - Aus Anlass der Kreutzersonate Lew Tolstois. Geschrieben von der Ehefrau Lew Tolstois“. Interessant auch, dass dieses Werk in Russland erstmals hundert Jahre später veröffentlicht wurde. 

 

Nun, kurz und gut ist Tolstoi der Meinung, dass die Menschen ihr Leben mit Sinnlichkeit, Üppigkeit, Müßiggang und Schamlosigkeit verschwenden. Die sinnliche Liebe ist nichts Erhabenes, sondern eine Ablenkung von den wirklichen Aufgaben des Menschen im Dienste der Menschheit, des Vaterlandes, der Wissenschaft oder der Kunst. Das Verlieben und die Vereinigung mit dem Gegenstand der Liebe erleichtere niemals die Erreichung eines menschenwürdigen Zieles, sondern erschwere es stets. 

 

Man muss vielleicht nicht alles schwarz und weiß sehen, aber da ist was dran, finde ich. Wie viele Menschen verbringen ihre Zeit in emotionalen Dramen, die sich in Familien und Beziehungen im Namen der Liebe und Gemeinschaft abspielen? Wie viele Menschen sind unglücklich in ihren Familien und Beziehungen, aber denken, es müsse so sein, weil die Gesellschaft es so vorgibt, Familie und Partnerschaft immer noch als das Non plus ultra darstellt? Sicherlich sind die gesellschaftlichen Normen heute ganz andere als im 19. Jahrhundert. Und trotzdem sind es immer noch gesellschaftliche Normen. Stempel, wie man zu sein hat, wie man sich zu verhalten hat, wenn man glaubt, dazugehören zu wollen. 

 

Während Tolstoi also mit seiner Novelle eine wirklich interessante psychologische Studie liefert, die seiner Zeit weit voraus ist, ist er auch der wütende, sture, alte Mann, der die Sexualität verteufelt und hierin sogar als seine Idealform die „geschwisterliche Ehe“ erläutert, also eine Ehe zwischen Mann und Frau, in der nach der Zeugung der Kinder keine Sexualität mehr praktiziert wird, sondern man brüderlich und schwesterlich zusammenlebt. Ich möchte nicht wissen, wie viele Ehepaare in der heutigen Zeit nach einigen Jahren keine Sexualität mehr teilen, aber es sind sicher eine Menge. Aber wie viele davon diesen Zustand als einen idealen ansehen, ist fraglich. Es entspricht (wieder einmal) nicht der Norm in der Ehe keinen Sex zu haben, und damit schafft es Druck von dem, der die Sexualität will, auf den, der sie nicht will. Und es schafft toxische Dreiecke, weil früher oder später einer sich außerhalb der Ehe seine Freuden sucht. Vielleicht wäre es da tatsächlich besser Tolstois Ideal als das Eigene anzunehmen? Wenn man schon glaubt, eine Ehe führen zu müssen und es nicht schafft, eine gesunde Sinnlichkeit miteinander zu erleben? Warum dann den angeblichen Mangelzustand nicht als die höchste Lebensform zur eigenen Entwicklung erheben? Quasi Zölibat in der Ehe? Ein interessanter Gedanke. 

 

Umso mehr, da Tolstoi im Weiteren die Ehe als nicht christlich entlarvt.

 

Obgleich Christus überhaupt nirgends die Ehe eingesetzt hat,…, sie eher verworfen hat,…haben die kirchlichen Lehren, die sich selbst christliche nennen, die Ehe als eine christliche Einrichtung eingesetzt.

 

Wieder eine menschlich geschaffene Norm also. Eine gesellschaftliche, eine religiöse. 

Und Tolstoi geht noch weiter, erläutert, dass Christus keine Verordnungen für das Leben gegeben hat, keine Einrichtungen begründet. 

 

Aber die Menschen, welche die Besonderheiten der Lehre Christi nicht begriffen, haben sich an äußerliche Lehren gewöhnt und von dem Wunsche beseelt, sich gerecht zu fühlen, wie sich der Pharisäer gerecht fühlt, dem ganzen Geiste der Lehre Christi zuwider, aus ihrem Buchstaben eine äußerliche Lehre Vorschriften gemacht, die die kirchliche christliche Lehre genannt wird, und diese Lehre an die Stelle der wahren Christuslehre des Ideals gesetzt.

 

Bingo. Dem ist nichts hinzuzufügen. 

 

Außer vielleicht, dass ich sture, querdenkende Menschen mag, die nicht müde werden, die herrschenden Gesellschaftsformen als das zu erkennen, was sie sind und neue Utopien herauszuschreien, auch wenn sie dabei vielleicht etwas übertreiben oder polarisieren. Im Gegenteil, das müssen sie.  

 

Und, dass in dem Ganzen doch eine Kleinigkeit fehlt. 

Die nicht zu verachten ist.

Ganz im Gegenteil. 

Der Schlüssel zu allem. 

Sozusagen der heilige Gral. 

 

Nämlich die Liebe zu sich selbst. 

 

Liebe und Mitgefühl mit sich selbst in diesem Ganzen, was der Mensch geschaffen hat. 

In den Normen und der Wut über die Normen. 

In den Zwängen und Abhängigkeiten, der Sinnlichkeit und den Genüssen. 

Und in dem, was der Mensch darüber hinaus noch ist, wenn er es wahrhaben will. 

 

 

Wenn ich den Menschen etwas von Herzen wünsche, 

dann die Fähigkeit tiefe Liebe zu sich selbst zu empfinden. 

 

Besonders, bevor sie hinausgehen und Liebe bei anderen suchen. 

 

Und vielleicht müssen sie dann auch nicht mehr suchen. 

  

 

 

Empfohlen für die langen Winterabende: 

 

- Die Kreutzersonate (die Sicht eines Ehemannes)

 

- Eine Frage der Schuld (die Sicht einer Ehefrau)

 

 

- Ein russischer Sommer (ein schöner Film)

 

 

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